Im Berliner Raser-Fall diskutierten die BGH-Richter vor allem über den Zeitpunkt des Vorsatzes. Solche Spitzfindigkeit könne nicht über das eigentliche Problem hinwegtäuschen, kritisiert Elisa Hoven: die Konstruktion des Mordparagrafen.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshof (BGH) verhandelte gestern über den Fall der "Berliner Raser" vom Kurfürstendamm. Dabei stand eine Frage im Vordergrund, die bislang – allerdings zu Recht – nicht diskutiert worden war: Der Zeitpunkt des Vorsatzes.
Doch das ist wenig überzeugend. Die Annahme eines solch "nachträglichen Vorsatzes" auf eine einzige und äußerst knappe Formulierung des erstinstanzlichen Urteils zu stützen, verkürzt die Feststellungen des LG und zeichnet ein erkennbar falsches Bild des Tatgeschehens. In dem Moment, in dem sich die Angeklagten dafür entschieden, die vor ihnen liegende rote Ampel mit einer Geschwindigkeit von 140-170 km/h zu passieren, konnten sie ihre Fahrzeuge noch abbremsen.
Die Täter wussten alles, was sie wissen müssen
Entscheidend ist also, wie man sich ihre innere Haltung zur Tötung eines Menschen in diesem Zeitpunkt vorzustellen hat. Die Fahrer wussten hier bereits alles, was sie wissen mussten: dass auf einer der Berliner Hauptverkehrsstraßen auch nach Mitternacht selbstverständlich ein Auto kreuzen kann und dass sie, wenn sie nun weiterfahren, keine Kontrolle mehr über das Geschehen und den Eintritt eines tödlichen Erfolges haben würden.
Ihr Vorsatz liegt also gerade darin, sich bewusst ihrer Reaktionsmöglichkeiten begeben und damit in Kauf genommen zu haben, einen anderen Menschen auf der vor ihnen liegenden Kreuzung zu töten. Dass sie im Zeitpunkt der Entscheidung für eine ungebremste Weiterfahrt auf die Kreuzung ein anderes Fahrzeug noch nicht sehen konnten, ist irrelevant.
Das Problem des "nachträglichen Vorsatzes" wurde vor Gericht am Beispiel eines Täters erörtert, der einen Stein den Berg herunterrollen lässt und erst dann bemerkt, dass er Menschen töten könnte. Der Vergleich ist erhellend – er muss jedoch zu einem anderen Ergebnis führen.
Den Angeklagten im "Berliner Raser-Fall" vergleichbar ist ein Täter, der den Stein rollt, obwohl er weiß, dass möglicherweise Menschen am Fuße des Berges stehen und dass er, wenn der Stein erst einmal rollt, keine Möglichkeit mehr haben wird, ihre Tötung zu verhindern. Ebenso wie die Rennteilnehmer weiß der Täter hier nicht, ob tatsächlich ein anderer getroffen werden wird – da dies jedoch allein vom Zufall abhängt, hofft er vielleicht auf das Ausbleiben eines Erfolges, vertraut aber nicht darauf.
Alle Voraussetzungen des bedingten Vorsatzes sind damit im Zeitpunkt der Tathandlung erfüllt. Dass der Täter erst nachdem der Stein eine Weile rollt sicher weiß, dass er einen Menschen treffen wird, ändert daran nichts. Auf die Annahme eines erst nachträglich gefassten Vorsatzes wird der BGH sein Urteil also nicht stützen können.
Der Mordparagraf ist falsch konstruiert
Ein Aspekt, der in der Diskussion bislang kaum Berücksichtigung gefunden hat, ist die Problematik der Mittäterschaft. Auf Basis der wechselseitigen Zurechnung muss der Täter nur in Kauf nehmen, dass sein Mitfahrer einen anderen Menschen tötet.
Damit entfallen Argumente wie die immer wieder bemühte "pathologische Selbstüberschätzung" des Täters oder seine Sorge um das eigene Fahrzeug. Es ist schließlich nicht davon auszugehen, dass der Täter auch die Fähigkeiten eines ihm kaum bekannten Rennteilnehmers in dieser Weise überhöht oder um dessen Fahrzeug besorgt ist.
Die psychologische Betrachtung des Vorsatzes wird (zu Recht) immer häufiger dahingehend kritisiert, dass sie letztlich jedes erwünschte Ergebnis zulässt. Im Fall der Berliner Raser erscheint die Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als zu weitgehend. Dies ist aber die Folge der unflexiblen Konstruktion des Mordtatbestandes und seiner absoluten Strafandrohung, die im Strafmaß keine Differenzierung zwischen absichtlicher und bedingt vorsätzlicher Tötung zulässt.
Es wäre enttäuschend – und ein weiteres starkes Argument gegen die Willenstheorie der Rechtsprechung – wenn der BGH hier durch eine semantische Spitzfindigkeit ein Urteil aufhebt, das in seinen Rechtsfolgen möglicherweise auf Unverständnis trifft, das aber eine sehr ausführliche und nachvollziehbare Gesamtwürdigung des Tatgeschehens vornimmt.
Juniorprofessorin Dr. Elisa Hoven lehrt am Institut für Straf- und Strafprozessrecht der Universität zu Köln.
BGH-Verhandlung zum Berliner Raser-Fall: . In: Legal Tribune Online, 02.02.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26853 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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