Gewerkschaften wollen möglichst hohe Organisationsgrade in der Belegschaft. Dazu bemühen sie sich um Arbeitsverträge, die den eigenen Mitgliedern Vorteile gegenüber den nicht organisierten Arbeitnehmern verschaffen. Das BAG hat eine entsprechende Stichtagsregelung am Mittwoch für zulässig gehalten. Eine weitere ergebnisorientierte Entscheidung, die zur Rechtssicherheit nicht beiträgt, findet Michael Fuhlrott.
Gewerkschaftsmitglieder der IG Metall erhalten bei einer betriebsbedingten Kündigung zum einen eine um 10.000 Euro höhere Abfindung, zum anderen auch ein um 10 Prozentpunkte höheres Transferkurzarbeitergeld als nichtorganisierte Arbeitnehmer. So lautete sinngemäß die Regelung in einem Transfer- und Sozialtarifvertrag, auf den Betriebsrat und Arbeitgeber bei einem Personalabbau Bezug genommen hatten.
Um einen Anspruch geltend machen zu können, musste der Arbeitnehmer außerdem bereits seit einiger Zeit Gewerkschaftsmitglied sein. Die Arbeitnehmerin, die bis zum Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt klagte, war als sog. Außenseiterin kein IG-Metall-Mitglied und kam daher zum maßgeblichen Stichtag nicht in den Genuss dieser Leistungen. So hatten auch bereits die Vorinstanzen (LAG München, Urt. v. 25. Juli 2013, Az.: 4 Sa 66/13; ArbG München, Urt. v. 22. Januar 2013, Az.: 25 Ca 8656/12) entschieden.
Dadurch sah sie sich in ihrer negativen Koalitionsfreiheit verletzt und forderte unter Berufung auf den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz die höhere Abfindung. Zu Unrecht, wie das BAG mit Urteil vom 15. April 2015 (Az. 4 AZR 796/13) entschied, das die tariflichen Regelungen als wirksam ansieht.
Differenzierungsklauseln: Wie die Gewerkschaften um Mitglieder kämpfen
Eine Gewerkschaft ist umso mächtiger, je mehr Mitglieder sie hat. Denn diese finanzieren mit ihren Beiträgen nicht nur die Aktivitäten der Gewerkschaften und deren Verwaltung, sondern füllen vor allem die gewerkschaftliche Kriegskasse für Streikmaßnahmen auf.
Dies kommt den Mitgliedern wiederum zugute, da so erfolgreich Tarifverhandlungen geführt und Gehaltserhöhungen durchgesetzt werden können. Zwar gilt ein Tarifvertrag gem. § 4 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz (TVG) nur für tarifgebundene Arbeitnehmer, gleichwohl lassen Arbeitgeber gerne durch arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln auch Nicht-Organisierte an den Tarifbedingungen teilhaben. Dies soll einerseits Ungleichbehandlungen in der Belegschaft verhindern, andererseits aber auch bewusst Arbeitnehmer von einem dann nicht mehr notwendigen Gewerkschaftsbeitritt abhalten.
Um einen echten Vorteil für ihre organisierten Mitglieder zu schaffen, machen sich Gewerkschaften daher gerne für Differenzierungsklauseln stark. Diese unterscheiden nach der Gewerkschaftszugehörigkeit der Arbeitnehmer und gewähren den tarifgebundenen unter ihnen höhere Leistungen.
Die rechtliche Zulässigkeit derartiger sog. einfacher Differenzierungsklauseln wird kontrovers diskutiert und wurde vom BAG (Urt. v. 18.03.2009, Az. 4 AZR 64/08) eingeschränkt zugelassen. Nur so werde, so die Bewertung der Erfurter Richter, "dem schwindenden Organisationsgrad" der Gewerkschaften Rechnung getragen und die "Effektivität des Tarifvertragssystems" im Ganzen gesichert, so dass der Eingriff in die Koalitionsfreiheit gerechtfertigt sei.
Stichtagsregelung erzeugt keinen unzulässigen Druck
Erstaunlicherweise nahm das BAG in dem am Mittwoch entschiedenen Fall eine solche Differenzierungsklausel aber gar nicht an. Vielmehr erkannte das BAG in der Stichtagsregelung eine tarifliche Binnenregelung, welche die Rechtsverhältnisse innerhalb der Gewerkschaftsmitglieder betreffe. Solche Stichtagsklauseln hielt das BAG in der Vergangenheit für unzulässig (Urt. v. 09.05.2007, Az. 4 AZR 275/06), da es willkürlich sei, auf einen bestimmten Tag abzustellen.
Nicht so im vorliegenden Fall: Die Stichtagsklausel verstößt weder gegen die in Art. 9 Grundgesetz (GG) verbriefte negative Koalitionsfreiheit noch gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, urteilten die Erfurter Richter.
Dass die Vereinbarung an die Gewerkschaftszugehörigkeit zu einem bestimmten Stichtag und an eine daraus resultierende höhere Abfindungszahlung anknüpfe, erzeuge keinen unzulässigen Druck. Es stehe schließlich jedem Arbeitnehmer frei, sich für oder gegen einen Beitritt zu entscheiden. Eine Stichtagsregelung formuliere folglich allein Anspruchsvoraussetzungen für tarifliche Leistungen. Da sich die Stichtagsregelung zeitlich an der durchzuführenden Personalabbaumaßnahme orientiere, sei auch der Zeitpunkt sachgerecht gewählt.
Sozialpolitik statt Rechtsfindung
Dieses Ergebnis mag man für gerecht, die feinsinnige Unterscheidung der Bundesrichter für juristisch nachvollziehbar halten. Ein Beigeschmack aber bleibt: Mit seiner Entscheidung stärkt das BAG unzweifelhaft den Gewerkschaften den Rücken, dies mag man je nach eigener gewerkschaftspolitischer Einstellung beurteilen.
Aus juristischer Sicht fährt die Rechtsprechung einen Zick-Zack-Kurs, die je nach Fall bemühte Entscheidung erzeugt Rechtsunsicherheit. Diese Orientierung am gewünschten Ergebnis scheint weniger Rechtsfindung als vielmehr Ausfluss sozialpolitischer Betätigung zu sein. Diese sollte jedoch der Politik vorbehalten bleiben.
Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Professor für Arbeitsrecht und Studiendekan Wirtschaftsrecht an der Hochschule Fresenius sowie als Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hamburg tätig.
Michael Fuhlrott, BAG erlaubt Besserstellung: . In: Legal Tribune Online, 16.04.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15250 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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