Das BAG hat seine Rechtsprechung teilweise geändert: Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung ist auch bei "starker" vorläufiger Verwaltung aus der Masse zu zahlen. Rolf Leithaus erklärt den Fall und seine Folgen.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat Urlaubsabgeltungsansprüche von Arbeitnehmer:innen in insolventen Unternehmen weiter als bisher privilegiert (Urt. v. 25.11.2021, Az. 6 AZR 94/19).
Zum besseren Verständnis der Entscheidung ist das vorläufige Insolvenzverfahren kurz zu erläutern: Nach Stellung eines Insolvenzantrags für ein Unternehmen mit einem laufenden Geschäftsbetrieb bestellt das Insolvenzgericht einen vorläufigen Insolvenzverwalter. Je nach Fallgestaltung handelt es sich zumeist um einen "schwachen", ausnahmsweise aber auch um einen "starken" vorläufigen Verwalter.
Während sich die Befugnisse des "schwachen" vorläufigen Verwalters darauf beschränken, Auszahlungen des insolventen Schuldners zuzustimmen, erlässt das Insolvenzgericht bei der Anordnung einer "starken" vorläufigen Verwaltung ein allgemeines Verfügungsverbot für das schuldnerische Unternehmen. Dieses hat zum einen zur Folge, dass der vorläufige Verwalter schon zu diesem Zeitpunkt die volle Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des insolventen Unternehmens erlangt und wie ein "endgültiger" Insolvenzverwalter agieren kann. Zum anderen generiert der "starke" vorläufige Verwalter aber auch schon Masseverbindlichkeiten, soweit er Leistungen Dritter in Anspruch nimmt. Derartige Masseverbindlichkeiten sind im späteren Insolvenzverfahren vorranging, also vor allen Insolvenzgläubigern, zu befriedigen.
Unübersichtlichkeit im vorläufigen Insolvenzverfahren
Das vorläufige Insolvenzverfahren dauert in der Regel bis zu drei Monate, bis es dann in das eröffnete Insolvenzverfahren mündet. In dieser frühen Phase führt der vorläufige Verwalter das Unternehmen fort und nimmt dadurch zumindest faktisch die Leistung aller nicht freigestellten Arbeitnehmer:innen in Anspruch.
Unabhängig davon, ob es sich um einen schwachen oder starken vorläufigen Verwalter handelt, werden die laufenden (Netto-)Löhne und Gehälter der Beschäftigten über das Insolvenzgeld abgedeckt. Daher kommt den Arbeitnehmer:innen auch in dieser Zeit – gedeckelt bei der Beitragsbemessungsgrenze – das volle Netto-Gehalt zu.
Da die Zeit der vorläufigen Verwaltung naturgemäß hektisch und unübersichtlich ist, wird sich ein vorläufiger Verwalter in aller Regel keine Gedanken darüber machen, ob er einzelne Arbeitnehmer:innen für die Fortführung der Geschäfte benötigt – oder nicht. Daher kommt eine (teilweise) Freistellung von Arbeitnehmer:innen vor Eröffnung des Verfahrens nur sehr selten vor.
Anspruch auch ohne Wertschöpfung
Diese, den Beschäftigten durchaus willkommene Praxis, wird nach der nun vorliegenden Entscheidung des 6. Senats des BAG - in Übereinstimmung mit dem bislang anders entscheidenden 9. Senat - wohl jedenfalls für den Fall der starken vorläufigen Verwaltung überdacht werden. Das BAG privilegiert nämlich jetzt alte Urlaubsansprüche der Arbeitnehmer:innen, also solche aus der Zeit vor Einleitung eines Insolvenzverfahrens, auch dann schon, wenn ein starker vorläufiger Verwalter das Unternehmen fortführt und die betroffenen Arbeitnehmer:innen nicht von ihrer Arbeitsleitung freistellt. Der oder die betroffene Arbeitnehmer:in muss auch keine unmittelbare Wertschöpfung für die Masse erbracht haben, damit die Privilegierung eintritt.
Dies führt dazu, dass auch solche Ansprüche, die bereits vor der Insolvenz entstanden waren, vor allen anderen Forderungen von Lieferanten und Subunternehmern vollständig aus der Insolvenzmasse befriedigt werden müssen. Bei Verfahren mit einer ausreichenden Insolvenzmasse führt das zu einer Beeinträchtigung der Insolvenzquote, da künftig höhere Forderungen voll befriedigt werden, die sonst nur eine Quote erhalten hätten.
Offen bleibt nach dieser Entscheidung noch, wie solche Alt-Urlaubsansprüche von noch nicht freigestellten Arbeitnehmern bei einer Masseunzulänglichkeit behandelt werden. Die Urteilsbegründung der Entscheidung liegt noch nicht vor und in der Pressemitteilung finden sich zu dieser Fragestellung keine Hinweise. Jedoch lässt ein im Vorfeld zu der Entscheidung ergangener Beschluss des 9. Senats (Beschl. v. 16.02.2021, Az. 9 AS 1/21) die Vermutung zu, dass das BAG in der Konstellation der starken vorläufigen Verwaltung die Urlaubsansprüche der nicht freigestellten Arbeitnehmer vollständig zu ebenfalls privilegierten Neu-Masseverbindlichkeiten erstarken lässt.
Viel Privilegierung bei vorhandenem Schutz
Die Entscheidung ist zwar angesichts der vorangegangenen Rechtsprechung konsequent. Sie verdient jedoch durchaus Kritik. Anders als andere Gläubiger, die mit ihren Leistungen aus der Vergangenheit lediglich Anspruch auf die Insolvenzquote erheben können, wird der in Geld umgewandelte Urlaubsanspruch von Beschäftigten auch dann voll befriedigt, wenn der Urlaub schon vor der Insolvenz entstanden und nicht genommen worden war.
Natürlich verdienen Arbeitnehmer:innen in der Insolvenz besonderen Schutz. Deren soziale Härten im Zusammenhang mit einem Insolvenzverfahren werden jedoch durch die Gewährung von Insolvenzgeld für den Drei-Monats-Zeitraum vor der Insolvenzeröffnung sowie den Masseanspruch auf Auslauflöhne für den Zeitraum von bis zu vier Monaten nach der Insolvenzeröffnung erheblich abgemildert.
Auch sind das Kündigungsschutzgesetz und die Schutznorm des § 613a Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) im Insolvenzverfahren anwendbar. Überdies sind Insolvenzverwalter stets bemüht, so viele Arbeitnehmer:innen wie möglich vor der sonst drohenden Arbeitslosigkeit zu retten. Durch das Erstarken von eigentlich wertlosen Forderungen können jedoch am Ende Mittel für notwendige Sanierungsmaßnahmen fehlen.
Daher ist zu befürchten, dass zukünftig vorläufige Insolvenzverwalter häufiger als bisher Arbeitnehmer:innen freistellen, die für eine Auffanglösung nicht unbedingt erforderlich zu sein scheinen. Dieser Schuss kann auch nach hinten losgehen, da solche freigestellten Arbeitnehmer:innen nicht in eine Insolvenzgeldvorfinanzierung im vorläufigen Insolvenzverfahren aufgenommen werden können und daher bis zur Eröffnung, also über bis zu drei Monate, nur Arbeitslosengeld erhalten und die Differenz zum Insolvenzgeld erst im Nachgang geltend machen können. Im Vergleich dazu dürfte eine nicht erfolgte Urlaubsabgeltung oftmals zu verschmerzen sein.
Dr. Rolf Leithaus ist Rechtsanwalt und Partner bei der internationalen Wirtschaftskanzlei CMS Deutschland. Er ist auf die Beratung bei der Sanierung und Liquidation von Unternehmen spezialisiert und wird regelmäßig auch in internationalen und länderübergreifenden Insolvenzverfahren tätig.
BAG zu "starker" vorläufiger Insolvenzverwaltung: . In: Legal Tribune Online, 07.12.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46856 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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