Technologie im analogen Urheber- und Datenschutz: Erwei­terte Rea­lität im juris­ti­schen Alt­land

von Felix Hilgert, LL.M.

30.01.2018

Noch so ein neues Wort: Augmented Reality. In dieser Zweit-Realität waren schon alle, die Pokémon oder ähnliches digital gespielt haben. Diese neue Welt wirft auch für nicht-Techies spannende Fragen auf. Welche, erklärt Felix Hilgert.

Als Technologie hat die Augmented Reality ("erweiterte Realität" oder "AR") das Experimentalstadium verlassen. AR-Anwendungen sind sowohl im industriellen als auch im privaten Alltag angekommen. Nicht jede Anwendung benötigt spezielle Hardware – viele Einsatzgebiete lassen sich mit handelsüblichen Smartphones abdecken.

Ein breites Publikum verbindet mit Augmented Reality zuerst Computerspiele für mobile Endgeräte, die sich statt durch Tastendruck zumindest teilweise durch Handlungen in der realen Umgebung steuern lassen. Daneben etablieren sich aber zahlreiche andere Anwendungsszenarien: In vernetzten Produktionsumgebungen und in der Logistik finden Datenbrillen wie Google Glass wachsende Verbreitung. AR-Anwendungen lassen sich für die Wegfindung einsetzen, insbesondere innerhalb von Gebäuden, in denen GPS nicht immer funktioniert.

Zahlreiche Apps lassen Nutzer mit virtuellen Objekten interagieren, die die reale Welt ergänzen oder sogar überlagern. So erkennen Übersetzungswerkzeuge anhand der Kamera eines Mobiltelefons Texte und zeigen dem Nutzer eine Übersetzung direkt im Sucher der Kamera an. Kombiniert mit einer Datenbrille ermöglicht diese Technologie beispielsweise eine bruchlose Orientierung in einem fremdsprachigen Schilderwald. Ferner können AR-Anwendungen eingesetzt werden, um Menschen mit Behinderungen die Erfassung ihrer Umwelt zu erleichtern, etwa durch eine Texterkennung mit Vorlesefunktion für Sehbehinderte.

Erfassen, auswerten, ergänzen

Gemeinsam ist diesen Anwendungen vor Allem eines: Sie können ihre Umgebung erfassen, auswerten und um kontextspezifische Informationen ergänzen, die für den Nutzer ortsbasiert und je nach verwendetem Gerät – also z.B. Smartphone oder Datenbrille – als Teil eines Echtzeit-Videos oder als gesonderte umgebungsabhängige Anzeige zugänglich sind. So werden virtuelle Objekte in reale geographische Zusammenhänge eingefügt und ortsbasiertes Spielen und Informationsabruf ermöglicht.

Unabhängig von der konkreten Gestaltung der einzelnen Anwendungen werfen schon diese Grundfunktionen allerlei Rechtsfragen auf. Beispielsweise können urheber- und datenschutzrechtliche Regelungen tangiert sein, wenn eine AR-Anwendung ihre Umgebung erfasst und auswertet und dabei fast zwangsläufig auch urheberrechtlich geschützte Werke und personenbezogene Daten in ihr Blickfeld nimmt.

Anlass zu Auseinandersetzungen gaben im vergangenen Jahr auch ortsbasierte Spiele, bei denen Teilnehmer auf Privatgrundstücken oder auf der Fahrbahn virtuellen Schätzen nachspürten: Darf ein Anbieter so einfach fremdes Eigentum als Substrat virtueller Zusatzinhalte verwenden?

Schaufensterpuppen und Augmented-Reality

Wie solche Anwendungen und die von ihnen erzeugten, mit der realen Welt kombinierten virtuelle Objekte rechtlich zu behandeln sind, steht auf den ersten Blick in keinem Gesetz. Alles #Neuland also? Brauchen wir dringend ein Realitätserweiterungsdurchsetzungsgesetz?

Bei genauerer Betrachtung unterscheiden sich viele der von AR-Anwendungen aufgeworfenen Fragen gar nicht so sehr von Konstellationen, mit denen sich Rechtswissenschaft und Rechtsprechung seit langer Zeit beschäftigen. Videobeobachtung des öffentlichen Raums? Es gibt bereits viele Entscheidungen zu Dashcams (u.a. OLG Nürnberg, Urt. v. 10.08.2017, Az. 13 U 851/17). Eine Horde ganz realer Schatzsucher im Vorgarten oder auf der Straßenkreuzung, weil ein Mobile Game dort virtuelle Schätze verortet? Zu Rechtsfigur und Verantwortlichkeit des "Zweckveranlassers" hat sich schon vor 100 Jahren das Preußische Oberverwaltungsgericht in den berühmten Schaufensterfällen (PreuOVG, 85, 270), Gedanken gemacht.

Aus urheberrechtlicher Perspektive stellt sich die Grundfrage, ob die Anwendung ihre Umgebung überhaupt erfassen und auswerten darf. Soweit nämlich die Umgebung des Nutzers urheberrechtlich geschützte Inhalte eines Dritten enthält, dürfte bereits in der Erfassung und Festlegung im Arbeitsspeicher eines AR-Systems eine Vervielfältigung liegen, deren Privilegierung durch § 44a UrhG zumindest fraglich ist, da das AR-System gerade eine wirtschaftlich eigenständige Nutzung ermöglicht. Je nach Ausgestaltung der Anwendung kommen ganz unterschiedliche Urheberrechtsschranken in Betracht, die eine solche Vervielfältigung auch ohne Lizenz ermöglichen – zu denken ist hier insbesondere an die Panoramafreiheit (§ 59 UrhG) und die Privatkopie (§ 53 UrhG). Allerdings taugen diese Schranken nicht als allgemeine "AR-Erlaubnisse", denn ob sie jeweils greifen, hängt von zahlreichen Einzelheiten ab, die sich je nach Anwendungssituation unterscheiden.

Weiterhelfen könnte hier die Vorschaubilder-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urt. v. 21.09.2017, Az.: I ZR 11/16). Kritiker mögen einwenden, dass der BGH hier statt klarer Dogmatik nur das gewünschte Ergebnis vor Augen hatte. Aber die Entscheidungen zeigen auch den Willen zu einer technologieoffenen, zukunftsfähigen Gesetzesauslegung: Im Ergebnis muss es einer Suchmaschine auch ohne Lizenz der jeweiligen Rechteinhaber erlaubt sein, verkleinerte Versionen von im Internet aufgefundenen Bildern als Suchergebnisse anzuzeigen. Dies ist für das technische Funktionieren einer Bildersuchmaschine nun einmal unerlässlich. Jedenfalls wird man mit der zunehmenden Verbreitung von AR-Anwendungen argumentieren können, dass die gelegentliche flüchtige Vervielfältigung eines Werkes zum Zweck der Ermöglichung von AR-Anwendungen zu einer nicht zu verhindernden Lebensrealität gehört.

Datenverarbeitung durch AR-Anwendungen

Sobald der Einsatz einer AR-Anwendung außerhalb des eigenen rein privaten Bereichs erfolgt, unterfällt die Erfassung personenbezogener Daten durch die Anwendung dem Datenschutzrecht, selbst wenn die Kamera des AR-Systems vom eigenen Grundstück aus auf öffentliche Straßen gerichtet wird. Das gilt auch dann, wenn die dabei entstehenden Bilder oder Videos gar nicht dauerhaft gespeichert, sondern nur während der konkreten Nutzung angezeigt werden.

Zwar kann die Intention einer allenfalls flüchtigen Zwischenspeicherung im Rahmen einer Interessenabwägung berücksichtigt werden, die den Einsatz der AR-Anwendung datenschutzrechtlich legitimieren kann. Dennoch wäre hier eine Positionierung der Datenschutzbehörden oder eine gesetzgeberische Klarstellung im Sinne der Rechtssicherheit beim AR-Einsatz wünschenswert, auch aufgrund der anstehenden Änderungen im deutschen und europäischen Datenschutzrecht.

Abwehrrechte gegen virtuelle Inhalte

Spannend bleibt auch die Frage nach der Handhabe eines Grundstückseigentümers gegen Anbieter von AR-Anwendungen, die eine Fassade virtuell mit möglicherweise unliebsamen Kommentaren versehen oder für ihre Nutzer eine virtuelle Schnitzeljagd ausgerechnet vor der eigenen Haustür veranstalten.

Hier gilt es zu unterscheiden: Solange Informationen nur in den Endgeräten der Anwender sichtbar sind, wirken sie sich auf das Grundstück noch nicht unmittelbar aus. Sie sind dort weder wahrnehmbar noch messbar. Dies wäre aber eine Voraussetzung für eine abwehrfähige Besitz- oder Eigentumsbeeinträchtigung. Rein ideelle Einwirkungen, so die Rechtsprechung, lösen keine Unterlassungsansprüche aus.

Im geschäftlichen Bereich sind allerdings zusätzliche Regeln zu beachten. Nutzt ein Unternehmen konsequent AR-Anwendungen, um seine Werbung im Umfeld – oder gar virtuell im Schaufenster – seiner Wettbewerber zu platzieren, könnte dies gegen das Wettbewerbsrecht (UWG) verstoßen.
Unterlassungsansprüche sind denkbar, wenn die Informationen innerhalb einer Anwendung dazu führen, dass deren Nutzer das Grundstück betreten. Einzelnen Spielern eines ortsbasierten Spiels Hausverbote zu erteilen, lindert zwar Symptome, löst jedoch nicht das Problem. Hier kann den Anbieter durchaus eine Störerhaftung treffen, deren genaue Voraussetzungen die Rechtsprechung noch herausarbeiten müsste.

In Anlehnung an bisherige Entscheidungen zur Haftung von Portalbetreibern (BGH, Urt. v. 01.03.2016, Az.: VI ZR 34/15) sollte der Anbieter zumindest Kenntnis davon haben, welche Auswirkungen die Gestaltung seiner Anwendung auf die Rechte Dritter in der Praxis hat. Um eine überbordende Haftung zu vermeiden, dürfte es – ähnlich wie bei Access-Providern (BGH, Urt. v. 26.11.2015, Az.: I ZR 174/14) – angebracht sein, die Störerhaftung des AR-Anbieters jedenfalls nur bei vereinzelten Beeinträchtigungen als subsidiär zu betrachten.

Auch wenn die AR-Technologie durch die Verschmelzung virtueller und realer Umgebungen bisher unbekannte Nutzungsformen des öffentlichen und privaten Raums ermöglicht, existiert sie nicht in einem juristischen Vakuum. Lösungsansätze für zahlreiche Praxisprobleme der AR lassen sich auch aus bestehenden Gesetzen und anerkannten Rechtsfiguren entwickeln. Im Hinblick auf den Datenschutz wären allerdings gesetzgeberische Klarstellungen wünschenswert.

Der Autor Felix Hilgert ist Rechtsanwalt im Kölner Büro von Osborne Clarke und berät regelmäßig Unternehmen der Spieleindustrie.

Zitiervorschlag

Felix Hilgert, Technologie im analogen Urheber- und Datenschutz: . In: Legal Tribune Online, 30.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26775 (abgerufen am: 07.11.2024 )

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