2/2: Patientenschutz versus Patientenautonomie
Gewiss, Patientenschutz ist ein hohes Gut. Und wenn die Regierungskoalition annimmt, die Gefahr von Falschdiagnosen sei von der Intensität der Arzt-Patienten-Kommunikation abhängig, liegt sie wahrscheinlich nicht falsch.
Doch ist damit noch nicht ausgemacht, ob der Gesetzgeber oder der Patient darüber entscheiden soll, welche Kommunikationsintensität für eine Online-Verordnung erforderlich sein soll. Für die Regierungskoalition liegt der Fall klar: Dem Patienten soll es erschwert werden, die von ausländischen Online-Arztpraxen geöffnete Hintertür zu nutzen und damit das Fernbehandlungsverbot zu umgehen. Kann er das Rezept nicht mehr vor Ort oder in einer deutschen Apotheke einlösen, bleibt ihm nur der Import über bestimmte Online-Apotheken im EU-Ausland.
Das ist keine allzu große Belastung für den Patienten. Dennoch stellt sie einen Grundrechtseingriff dar: Nach herrschender Grundrechtsdogmatik ist der Schutz gegen sich selbst an sich nur bei einem die Willensfreiheit ausschließenden Zustand oder zum Schutz der Grundrechte Dritter zulässig. Der letztgenannte Fall liegt hier nicht vor.
Auch Online-Praxen erfüllen ihre Aufgabe
Problematischer ist die Willensfreiheit. Zum einen gibt es die informationelle Asymmetrie zwischen Arzneimittelhersteller und Patient. Der Beipackzettel allein verleiht noch keine Entscheidungssouveränität. Zum anderen darf man das Paradoxon der Patientenautonomie nicht unterschätzen. Der Patient wähnt sich dank Internetrecherche gut informiert, ist es faktisch aber nicht.
Daher mag es für eine wirklich freie und bewusste Entscheidung für oder gegen ein Medikament erforderlich sein, eine ärztliche Zwangsberatung in Form der Verschreibungspflicht einzurichten.
Eben diese Gatekeeper-Aufgabe erfüllen aber die in Online-Praxen tätigen Ärzte durchaus. Mehr Bevormundung braucht es nicht. Eine empirische Basis für Fehldiagnosen gibt es im EU-Ausland oder den USA genauso wenig wie ein Verbot von Online-Verschreibungen. Dass die hiesige politische Klasse den deutschen Krankenversicherten offenbar für besonders dämlich und damit schutzbedürftig hält, kann nicht wirklich überraschen. Denn dies entspricht den paternalistischen Grundzügen der jüngeren Gesundheitspolitik.
Kultureller Wandel und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung
Das Verbot von Online-Verschreibungen ist reaktionär, weil es die digitale Revolution des Gesundheitswesens ignoriert. Die kognitiven und sozialen Fähigkeiten, sich Zugang zu relevanten Gesundheitsinformationen zu verschaffen, diese zu verstehen und effektiv einzusetzen, haben sich enorm gesteigert. Dieser Zuwachs an sogenannter Health Literacy kennzeichnet den heutigen E-Patienten und macht ihn zum untauglichen Objekt ubiquitärer staatlicher Bevormundung.
Zudem dürfte das Verbot von Online-Verschreibungen unionsrechtlich kaum haltbar sein. Nach Art. 11 Abs. 1 S. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/24/EU sind zwar ausnahmsweise Einschränkungen bezüglich der Anerkennung persönlicher Verschreibungen zum Schutz der menschlichen Gesundheit zulässig.
Dies aber nur, sofern sie auf das notwendige und angemessene Maß begrenzt und nicht diskriminierend sind. Zwar verbietet es die Richtlinie dem deutschen Gesetzgeber nicht, die eigenen Patienten und (Versand-)Apotheken zu benachteiligen, doch dürfte es ihm schwerlich gelingen, die Verhältnismäßigkeit des Verbots von Online-Verschreibungen nachzuweisen. Bekanntlich legt auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) Ausnahmen eng aus.
Der Autor Prof. Dr. Ulrich M. Gassner ist Gründungsdirektor der Forschungsstelle für E-Health-Recht an der Universität Augsburg.
Verbot von Online-Verschreibungen von Medikamenten: . In: Legal Tribune Online, 31.03.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18930 (abgerufen am: 06.11.2024 )
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