70 Jahre GG – die Familie, Art. 6 GG: "Lieber die Kinder besser schützen als die Ehe"

Interview von Pia Lorenz

18.05.2019

Im Gespräch mit LTO diskutiert Ex-BVRin Christine Hohmann-Dennhardt unter anderem über die gerichtlichenen Zuständigkeiten und Lösungen bei familiären Streitigkeiten. Und darüber, dass das BVerfG auch immer politisch ist.

Das Grundgesetz (GG) wird 70 Jahre alt. Das gibt Anlass, einen Blick auf wichtige Normen und Werte der deutschen Verfassung zu werfen. Bis zum 23. Mai stellt LTO die wichtigsten Artikel des Grundgesetzes vor. Heute im Gespräch: Ex-BVRin Dr. Christine Hohmann-Dennhardt zu Art. 6 GG.

LTO: Vor kurzem hat das Bundesverfassungsgericht die Stiefkindadoption in nichtehelichen Lebensgemeinschaften erlaubt. Frau Dr. Hohmann-Dennhardt, war das für Sie absehbar?

Dr. Christine Hohmann-Dennhardt: Ich habe das Thema und den Fall verfolgt und hatte gehofft, dass es so ausgehen würde. Das Kriterium einer dauerhaften Beziehung könnte der Gesetzgeber bei einer Neuregelung durchaus fordern. Aber es muss eine Öffnungsklausel geben, nach der auch in einer Patchworkfamilie ohne Ehe das Kind des anderen adoptiert werden kann, ohne dass der leibliche Elternteil sein Sorgerecht verliert.
Meines Erachtens könnte man auch auf das Kriterium der Ehe noch verzichten. Völlig richtig ist, dass das Bundesverfassungsgericht den Blick auf das Kind und sein Wohl gerichtet hat. 

Dr. Christine Hohmann-Dennhardt

Würde es nicht ausreichen, nur das Kind, also die Familie unter den besonderen Schutz des Grundgesetzes zu stellen statt auch die Ehe? Zuletzt im Jahr 2017 bei der Einführung der "Ehe für alle" wurde gefordert, Art. 6 zu ändern. Stattdessen muss erst das Bundesverfassungsgericht - gefühlt im Jahrestakt - die Gleichstellung sowohl von homosexuellen als auch von nichtehelichen Lebensgemeinschaften auf allen erdenklichen Ebenen herstellen.

Meines Erachtens hätte es keine Änderung von Art. 6 gebraucht, um die Ehe für alle im Bürgerlichen Gesetzbuch möglich zu machen. Ich habe auch bisher nicht gehört, dass sich jemand am Ende wirklich mit dieser Auffassung an das Bundesverfassungsgericht wenden wollte.

Unabhängig davon gab es die Forderung, nur die Familie und nicht auch die Ehe unter den besonderen Schutz des Staates zu stellen, schon zu Zeiten der gemeinsamen Verfassungskommission von Bund und Ländern, in der ich damals für das Land Hessen saß. Das wurde sogar parteiübergreifend unterstützt, hat aber damals in der Kommission nicht die nötige Mehrheit gefunden.

Der staatliche Schutzauftrag in Bezug auf die Familie sollte mit Blick auf das Kind in Art. 6 GG besonders hervorgehoben werden. Und auch wenn das Stichwort Kindeswohl inzwischen in aller Munde ist,  in viele Gesetze Eingang gefunden hat und als Prüfungsmaßstab für familiäre Konfliktlösungen dient, spreche ich mich weiterhin dafür aus, die alte Forderung umsetzen, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen.

Ich weiß, dass es viele Skeptiker gibt, die das Grundgesetz nicht aufblähen wollen und darauf verweisen, dass das Verfassungsgericht schließlich schon entschieden habe, dass das Kind ein Rechtssubjekt ist. Aber ich glaube, es würde der Verfassung gut zu Gesicht stehen, wenn sich dort auch expressis verbis wiederfände, dass das Kind nicht nur ein Objekt elterlicher Vorsorge und Fürsorge ist, sondern ein Rechtssubjekt mit eigenen Rechten – und man es sich nicht nur zum Verfassungstext hinzudenken müsste.

Inobhutnahme durch das Jugendamt: "Das Familiengericht sollte zuständig werden"

Der größte denkbare Eingriff in das Elternrecht ist wohl die Inobhutnahme durch das Jugendamt. Nicht nur Familienrechtler monieren, dass für deren nachträgliche Überprüfung die Verwaltungsgerichte, nicht aber die Familiengerichte zuständig sind.

Wenn das Jugendamt in einem Fall davon ausgeht, dass das Kindeswohl so akut gefährdet ist, dass das Familiengericht nicht mehr rechtzeitig angerufen werden kann, kann es das betreffende Kind ad hoc aus der Familie nehmen. Wenn die Eltern diese Inobhutnahme für rechtswidrig halten und dagegen vorgehen wollen, müssen sie den Weg zu den Verwaltungsgerichten einschlagen – während das Familiengericht nach nachträglicher Anrufung durch das Jugendamt gleichzeitig damit beschäftigt ist und ganz allein die Kompetenz dafür hat, darüber zu entscheiden, wie es mit dem Sorgerecht der Eltern und dem Verbleib des Kindes weiter geht.

Das Verfahren des Verwaltungsgerichts über die Inobhutnahme als konkrete Maßnahme in der Vergangenheit und das Verfahren des Familiengerichts über die Zukunft des Kindes im Hinblick auf Sorge- und Umgangsrechte usw. können also parallel verlaufen – und zu verschiedenen Ergebnissen kommen. Insofern sollte der Gesetzgeber darüber nachdenken, ob dies nicht im Interesse von Kind und Eltern und zur effizienteren Rechtsschutzgestaltung geändert werden könnte. Denn die Eltern interessiert doch vor allem, wie es weiter geht – beim Rest geht es dann nur noch ums Rechthaben.

Was schlagen Sie vor?

Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder, wenn man es bei der klassischen Aufteilung belassen will, könnte man festlegen, dass dem familiengerichtlichen Verfahren der Vorrang einzuräumen ist, sodass das Verwaltungsgericht sein Verfahren bis zur Entscheidung des Familiengerichts  dann aussetzen müsste und auch keine Anordnungen über z.B. die Herausgabe des Kindes an seine Eltern treffen dürfte. Oder man könnte, was mir noch besser erscheint, die Verfahren zusammenführen und den Familiengerichten die Zuständigkeit auch für Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme übertragen.

Das wäre ungewöhnlich, weil natürlich zur Überprüfung einer staatlichen Maßnahme in der Regel die Verwaltungsgerichte berufen sind. Aber auch im Rahmen der sog. Hartz-IV-Gesetzgebung wurden schließlich nicht nur Streitigkeiten über die Grundsicherung, sondern auch Sozialhilfeansprüche und Ansprüche aus dem Asylbewerberleistungsgesetz in die Zuständigkeit der Sozialgerichte verlegt, weil man davon ausging, dass diese Rechtsgebiete in einem Sachzusammenhang mit den sonstigen den Sozialgerichten zugewiesenen Verfahren stehen. Und einen solchen Sach- und Fachzusammenhang  gibt es auch zwischen den Verfahren in Kindschaftssachen, hier insbesondere nach den §§ 1666 und 1666a BGB, für die die Familiengerichte zuständig sind, und der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Inobhutnahme.

Aber würde das nicht die Rechtsweggarantie aus Art. 19 Abs. 4 beschneiden? 

Nein, das sehe ich nicht so. Die Rechtsweggarantie, ein wichtiges und wesentliches Element der Rechtsstaatsgarantie, besagt ja, dass es einen Rechtsweg geben muss, sich gegen staatliche Eingriffe zu wehren. Aber wie legt dafür keinen bestimmten Gerichtszweig fest, sondern überlässt dies dem einfachen Gesetzgeber.  

Wechselmodell für alle: "Noch mehr Konfliktpotenzial"

Wie beurteilen Sie Pläne, vom Residenzmodell aufs Wechselmodell umzusteigen, bei dem Kinder nach einer Trennung gleich viel Zeit bei Mutter und Vater verbringen? Gäbe es aus Ihrer Sicht ein verfassungsrechtliches Problem, wenn der Staat als Regelfall normieren wollte, dass die Kinder sich die Hälfte der Zeit beim Vater aufhalten?

Ich halte das weniger für ein verfassungsrechtliches Problem. Wer nicht zu Gericht geht, wird ja nicht zu etwas gezwungen. Und wenn man es tut, weil man sich nicht einig über den Umgang mit dem Kind ist, erfolgt ja mit der gerichtlichen Entscheidung immer ein Eingriff ins Elternrecht. Aber ich halte die Einführung des Wechselmodells als Regelfall nicht für besonders sinnvoll.

Das Wechselmodell ist sicherlich sinnvoll, wenn die Eltern sich einig sind und möglichst nah  beieinander wohnen, so dass ein Wechsel zwischen ihnen für die Kinder handhabbar ist. Diese Fälle aber sind ja nicht die streitigen. Die Fälle dagegen, die zu Gericht kommen, sind jene, in denen die Eltern sich oft heftig streiten - und zwar am allermeisten um das Kind. In solchen Konstellationen ein Wechselmodell anzuordnen, halte ich für schwierig.

Besser wäre es, im jeweiligen Einzelfall zu schauen, welche Umgangs-Varianten möglich und gewünscht sind und von welchen man sich vorstellen kann, dass sie klappen. Wie ist die familiäre Konfliktsituation, nicht zuletzt auch die Wohnsituation der Eltern, und wie stabil sind die Kinder in ihrer psychischen Entwicklung? Diesen Fragen muss das Gericht ja nachgehen, um so zu entscheiden, dass es dem Kindeswohl auch dienlich ist oder dieses befördert. Ich kann mir schwer vorstellen, dass in der Praxis bei großem Zwist der Eltern als Ergebnis dieser Prüfung ein Wechselmodell herauskäme.

Aus meiner Sicht liegt es hier etwas anders als bei der gemeinsamen Sorge. Den Versuch, mit deren Festlegung als Regelfall darauf hinzuwirken, dass Eltern auch nach Trennung weiter gemeinsam Verantwortung für das Kind tragen, halte ich für sinnvoll und das gemeinsame Sorgerecht ist ja dadurch auch tatsächlich zum Regelfall geworden.

Beim Wechselmodell aber steht meines Erachtens noch mehr in Frage, wie eine solche Konstellation sich auf das Kind auswirkt  und zu bewerten ist. Und man darf nicht vergessen, dass daraus zwangsläufig noch weitere Konfliktpunkte unterhaltsrechtlicher Art hinzukämen. Es ist ja klar und verständlich, dass ein Vater, der nicht nur ein Zimmer für jedes zweite Wochenende für das Kind vorhält, sondern bei dem das Kind die Hälfte der Zeit lebt, weniger Unterhalt zahlen möchte als vorher. Für die Mutter aber ändert sich eigentlich nichts, sie hätte dann nicht weniger Aufwand als zuvor, aber weniger Unterhalt. Das wäre ein weiterer Konfliktherd.

"Was beim Bundesverfassungsgericht geschieht, ist immer politisch"

An den mittlerweile zahlreichen Entscheidungen des Verfassungsgerichts zu Art. 6 zeigt sich besonders deutlich, wie auslegungsfähig die deutsche Verfassung ist. Sind diese Urteile, die immer mehr Gleichstellung mit der Ehe herbeiführten, eine aus Ihrer Sicht verfassungsrechtlich gebotene Anpassung an gesellschaftliche Realitäten oder verkennt das Bundesverfassungsgericht die Idee der Mütter und Väter des Grundgesetzes?  

Verfassungen müssen einer Staatlichkeit einen Rahmen geben, Wertmaßstäbe setzen und Menschen- und Grundrechte den Bürgern zuweisen. Daran müssen die Probleme der jeweiligen Zeit gemessen werden. Die US-Verfassung datiert von 1787. Natürlich wurde sie im Laufe der Zeit um einige Zusatzartikel ergänzt, aber vor allem muss auch sie und das Grundgesetz gleichermaßen interpretiert und abgeglichen werden mit der heutigen Wirklichkeit.

Die Grundwerte unseres Grundrechtekatalogs gelten ja. Was sie in unserer heutigen Zeit bedeuten, welche Antworten sie geben für Probleme, vor denen wir heute anders als die Mütter und Väter der Verfassung stehen, das ist die Aufgabe der fortschreibenden Verfassungsinterpretation.

In erster Linie ist dies natürlich  Aufgabe des Gesetzgebers. Denn zur Rechtsstaatlichkeit gehört, dass Politik und Gesetzgeber sich an die Vorgaben der Verfassung halten müssen. Um dies sicherzustellen, hat man sich damals entschieden, ein Bundesverfassungsgericht einzurichten. Und das wird immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob das, was der Gesetzgeber gemacht hat, unserer Verfassung entspricht.

Prüfmaßstab ist also allein die Verfassung, nicht, ob man ein Gesetz für gut gelungen empfindet. Allerdings sind die Fragen, über die das BVerfG entscheidet, natürlich oft auch ein Politikum. Und wenn das Gericht entscheidet und der Gesetzgeber daran gebunden ist, dann hat das natürlich politische Wirkung. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht keine Politik macht, kann man nicht leugnen, dass politisch ist, was dort geschieht.

Dr. Christine Hohmann-Dennhardt war von 1999 bis Januar 2011 Richterin im Ersten Senat des Bundesverfassungsgericht und dort insbesondere für das Familienrecht zuständig.

Die Fragen stellte Pia Lorenz.

Zitiervorschlag

70 Jahre GG – die Familie, Art. 6 GG: . In: Legal Tribune Online, 18.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35461 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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