Nach dem 7. Oktober äußerte sich Anwar El Ghazi in den sozialen Medien mehrfach einseitig zum Gaza-Krieg. Schließlich entließ ihn Mainz 05 deshalb fristlos. Mit dem juristischen Grenzfall befasst sich am Mittwoch das Mainzer Arbeitsgericht.
Während der Fußball-Europameisterschaft finden Spiele in zehn verschiedenen Stadien deutscher Großstädte wie Berlin, München, Dortmund und Leipzig statt. In der Mainzer Mewa Arena wird frühestens ab Ende August wieder professioneller Fußball gespielt, das mit 33.000 Sitzen eher kleine Stadion ist kein Austragungsort der EM – und der Vereinsfußball pausiert im Sommer. Das Team des 1. FSV Mainz 05 wird aber bald wieder ins Training einsteigen, aller Voraussicht nach ohne den niederländischen Stürmer Anwar El Ghazi. Der Verein hatte ihm Anfang November 2023 fristlos gekündigt – wegen einer Serie von Social Media Posts zum Gaza-Krieg. Ob die fristlose Kündigung rechtswirksam war, darüber verhandelt am Mittwoch das Arbeitsgericht (ArbG) Mainz (Az. 10 ca 1411/23).
Auch wenn der Niederländer mit seiner Klage Erfolg hätte, wird er aber wohl nicht mehr für die Nullfünfer auflaufen. Es geht am Mittwoch vor allem um Geld: Über vier Millionen Euro könnte er vom Verein noch an Gehalt bekommen – wenn ihm das ArbG in dem juristischen Grenzfall Recht gibt.
Die zentrale Rechtsfrage ist, ob El Ghazi durch sein Posting-Verhalten einen "wichtigen Grund" zur Kündigung i.S.v. § 626 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) gegeben hat. Dafür müsste es dem Verein unzumutbar sein, das Ende der Vertragslaufzeit abzuwarten – das wäre hier dank des Klassenerhalts der Mainzer in der 1. Bundesliga der 30. Juni 2025. Knifflig an dem Fall, in dem es auf die Details ankommt: Nur einer der Posts, eine Instagram Story, enthielt für sich genommen problematische Aussagen. El Ghazi löschte den Beitrag zwar umgehend, könnte die Aussage aber durch einen Tweet zwei Wochen später reaktiviert haben, als er schrieb, sich von seiner bisherigen Position nicht zu distanzieren.
Wie viel Einseitigkeit ist zu viel?
Der Reihe nach: Am 15. Oktober veröffentlichte El Ghazi einen Post zum Gaza-Krieg auf Instagram als Story. Stories sind normalerweise 24 Stunden lang abrufbar, El Ghazis Story war am Ende aber nur wenige Minuten online, dann löschte sie der Niederländer wieder. Womöglich, weil er deren Einseitigkeit selbst erkannt hatte oder darauf hingewiesen worden war.
Die Story enthielt neun Absätze Text, die Kernaussage über den Gaza-Krieg ganz oben: "Das ist kein Krieg." Denn in diesem Kampf herrsche keine Waffengleichheit. El Ghazi kritisierte Israel dafür, die Versorgung des Gazastreifens mit Wasser, Lebensmitteln und Strom Anfang Oktober unterbrochen zu haben. Ferner bezichtigte er Israel des Völkermordes.
Den Abschluss des Statements bildete einmal mehr die Parole "From the River to the Sea, Palestine will be free". Dies verstehen viele als Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel (und seiner Bewohner), andere halten auch eine gewaltfreie Deutung für möglich: als Ausdruck der Hoffnung auf ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Juden, Muslimen und Arabern zwischen Jordan und Mittelmeer.
Klar ist: Das Posting war denkbar einseitige "Israel-Kritik". Israel acht Tage nach dem mörderischen Terrorangriff der Hamas einen Genozid vorzuwerfen, ohne die Gräuel vom 7. Oktober auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu verurteilen, ist für viele unerträglich. Das gilt insbesondere für Angehörige der am 7. Oktober getöteten oder verschleppten Menschen. Aber gilt es auch für den 1. FSV Mainz 05 e.V.? Grundsätzlich kann sich El Ghazi, der als Sohn marokkanischer Eltern schon früher immer wieder seine Solidarität mit den Palästinensern gezeigt hat, auf seine Meinungsfreiheit berufen. Aber wie viel Einseitigkeit ist für das Image eines Fußballvereins zu viel – sodass sie eine Kündigung rechtfertigt?
Versöhnung auf den ersten Blick
Mit einer Kündigung versuchte es der Verein nach dem gelöschten Post zunächst nicht. Vielmehr reagierte er, indem er El Ghazi vom Trainings- und Spielbetrieb freistellte. Von einer Abmahnung war in der Mitteilung des Vereins vom 17. Oktober keine Rede.
Danach gab es ein Gespräch zwischen Spieler und Clubverantwortlichen hinter verschlossenen Türen. Die Öffentlichkeit konnte den Fall erst am 27. Oktober weiterverfolgen, als El Ghazi u.a. auf X ein kurzes Statement postete, in dem er die Tötung unschuldiger Zivilisten in Palästina und Israel verurteilte. Sein Mitgefühl gelte den unschuldigen Opfern auf beiden Seiten des Konflikts, unabhängig von ihrer Nationalität. "Ich stehe für Frieden und Humanität für alle ein", stellte er im Hinblick auf seine vorherigen Posts klar. Vom Inhalt oder den Formulierungen im gelöschten Instagram Post distanzierte er sich aber nicht. Vielmehr seien seine bisherigen Posts "missverstanden" worden.
Drei Tage später teilte der Verein mit, die Suspendierung aufgehoben zu haben. El Ghazi werde abgemahnt. Er dürfe aber zeitnah ins Training zurückkehren, nachdem er sich "in mehreren Gesprächen mit dem Vereinsvorstand von seinem Post auf seinem Instagram-Kanal distanziert" habe und "die Veröffentlichung des Beitrages" vom 15. Oktober "bedauerte". Distanzierung und Bedauern – aus El Ghazis Post vom 30. Oktober ergibt sich das bei genauem Hinsehen nicht, womöglich aber aus dem persönlichen Gespräch, dessen Inhalt nicht bekannt ist? Hier weichen die Wahrnehmungen von Club und Spieler voneinander ab.
Auch öffentlich hielt der Anschein einer Versöhnung nicht lang an: Schon einen Tag später widersprach El Ghazi seinem Arbeitgeber in einem weiteren Statement auf X und Instagram. Er bereue seine ursprünglich geäußerte Position nicht und distanziere sich auch nicht von ihr. Er stellte vielmehr klar, sein eigener Post vom 27. Oktober sei "das einzige und letzte Statement sowohl gegenüber dem FSV Mainz 05 als auch gegenüber der Öffentlichkeit" in Bezug auf seine eigenen Social-Media-Posts zum Gaza-Krieg. "Alle anderslautenden Statements, Kommentare oder Entschuldigungen, die mir zugeschrieben werden, sind nicht korrekt und von mir nicht freigegeben worden."
Die Abmahnung, die keine ist?
Dieser Post kam für den damals sieglosen Tabellenletzten zur Unzeit: Stunden vor dem Spiel gegen Hertha BSC im DFB-Pokal. Am 3. November, zwei Tage nachdem die Nullfünfer auch diese Partie deutlich verloren hatten und aus dem Pokal ausgeschieden waren, teilte der Club mit, El Ghazi fristlos gekündigt zu haben. LTO holte eine Experteneinschätzung dazu ein, ob der Sachverhalt die Kündigung rechtfertigt. Das Ergebnis offen: "Es handelt sich um einen absoluten Grenzfall", meinte Arbeitsrechtsprofessor Matthias Jacobs (Bucerius Law School) gegenüber LTO.
Er wies u.a. darauf hin, dass wegen des Posts vom 15. Oktober eine Kündigung nicht mehr möglich gewesen sei, da dieser Vorfall durch die stattdessen ausgesprochene Abmahnung verbraucht sei. "Dadurch, dass der FSV sich nach seinem ersten Post für die Abmahnung als milderes Mittel entschieden hat, ist eine Kündigung allein wegen dieses Posts nicht mehr möglich", so Jacobs. Aber hat es eine solche Abmahnung wirklich gegeben?
Laut der Presseerklärung des Vereins vom 30. Oktober schon. Hier heißt es, der Spieler "wird" wegen seines Posts vom 15. Oktober "abgemahnt". Nun ersetzt eine Pressemitteilung nicht die Abmahnung selbst – und El Ghazis Rechtsanwalt Alexander Bergweiler (König Rechtsanwälte) bestreitet im Prozess, dass es eine solche gegeben hat. Auch der Verein trage dies vor dem ArbG nun gar nicht mehr vor, so Bergweiler am Montag gegenüber LTO. Der anwaltliche Vertreter von Mainz 05 Dr. Johan-Michel Menke (Heuking Rechtsanwälte) hat sich auf LTO-Anfrage nicht zum laufenden Verfahren äußern wollen.
Unabhängig davon, ob es eine Abmahnung gegeben hat, bleibt es laut Bergweiler dabei, dass eine Kündigung nicht auf den Post vom 15. Oktober gestützt werden kann. Denn: "Die Kündigung kam hier eindeutig zu spät." Der Verein habe mehr als zwei Wochen verstreichen lassen. Gemäß § 626 Abs. 2 BGB muss die fristlose Kündigung innerhalb von zwei Wochen erfolgen, nachdem der Arbeitgeber "von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt" hat. Diese Frist sei hier verstrichen, so Bergweiler.
"From the River to the Sea" auch Thema beim Arbeitsgericht
Der Anwalt ist wie Rechtswissenschaftler Jacobs der Auffassung, die Kündigung könne allenfalls auf den Post vom 1. November gestützt werden. Der Vorwurf an El Ghazi lautet insofern, den Post vom 15. Oktober hiermit reaktiviert zu haben. Dafür spricht, dass El Ghazi deutlich zum Ausdruck bringt, sich von seiner bisherigen Position nicht zu distanzieren. Dagegen spricht aber, dass er in demselben Post klarmacht, das Statement vom 27. Oktober sei das "einzige und letzte Statement", auch "gegenüber der Öffentlichkeit". Sich von den Formulierungen in einem bereits nach wenigen Minuten gelöschten Post ausdrücklich zu distanzieren, hielt er womöglich für überflüssig.
Wie die 10. Kammer am ArbG Mainz diese Frage beurteilt, wird zentral für den Erfolg der Klage sein. Sieht sie darin wie der Verein eine Reproduktion des gelöschten Posts, wird sie sich damit auseinandersetzen müssen, ob eine sofortige Kündigung hier trotz fehlender Abmahnung zulässig war. Der Verein argumentiert insofern damit, angesichts der fehlenden Einsicht des Spielers habe die Gefahr bestanden, dass er sich auch weiterhin einseitig zum Gaza-Krieg positionieren würde. Aber reicht das aus?
Die Parole "From the River to the Sea" könnte hier einen Unterschied machen – oder auch nicht: Verwaltungs- und Strafgerichte betonen in Bezug auf die Parole bislang die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit, wonach bei mehrdeutigen Aussagen die Interpretation zugrunde zu legen ist, die keine Sanktion rechtfertigt. Nach einer Verfügung des Bundesinnenministeriums vom November verfolgen einige Staatsanwaltschaften den Spruch jedoch als Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§§ 86, 86a Strafgesetzbuch). Das Landgericht Mannheim jedoch sah das kürzlich in einem vielbeachteten Beschluss anders und lehnte eine Strafbarkeit ab; LTO berichtete. Gegen El Ghazi selbst ermittelt die Staatsanwaltschaft Koblenz u.a. wegen Volksverhetzung.
Es wird eine Entscheidung geben
Dass das ArbG die Kündigung allein deshalb für gerechtfertigt hält, weil El Ghazi in seinem letzten Post öffentlich der Darstellung seines Clubs widerspricht, ist unwahrscheinlich. Denn wenn der Arbeitgeber einen Sachverhalt unzutreffend darstellt, muss der Arbeitnehmer auch widersprechen dürfen. Laut Bergweiler hat es nach El Ghazis Suspendierung nur einen Klärungsversuch zwischen Verein und Spieler gegeben, der aber erfolglos blieb. Der Spieler habe sich hier nicht von seiner Position distanziert oder Reue zum Ausdruck gebracht. Das Statement des Vereins vom 30. Oktober schreibe dem Spieler daher Aussagen zu, die er so nicht gemacht habe.
Je nachdem, wie das ArbG Mainz entscheidet, ist das Vertragsverhältnis mit El Ghazi entweder seit Anfang November beendet oder es besteht fort. Im letzteren Fall schuldet der FSV seinem Angreifer noch Gehalt für die Zeit ab November bis Ende Juni 2025. Das ArbG stellte im erfolglosen Gütetermin im Januar ein Monatsgehalt von 150.000 Euro fest, zu dem aber noch Prämien hinzukommen. Insgesamt geht es nach LTO-Informationen um mehr als vier Millionen Euro. Gibt das Gericht dem Verein Recht, erhält der Niederländer vom Verein nichts, sondern muss diesem noch gut eine halbe Millionen Euro zahlen – als Vertragsstrafe und Teilrückzahlung eines Bonus.
Gewissheit wird es je nach Verhandlungsverlauf am Mittwochnachmittag geben. Dass die Parteien sich zuvor noch durch Vergleich einigen, ist nicht zu erwarten.
Red. Hinweis: Die Information, dass das Ermittlungsverfahren gegen El Ghazi weiterhin läuft, wurde nachträglich hinzugefügt (20.06.2024, 9:30 Uhr).
Gericht verhandelt Kündigung von Anwar El Ghazi: . In: Legal Tribune Online, 18.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54799 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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