Es ging einiges drunter und drüber, als das BMAS kürzlich den neuen SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard präsentierte. Martin Lützeler dröselt das Chaos auf und zeigt, womit Arbeitgeber es nun zu tun haben.
Nach Wochen des Stillstands, in denen nur noch Super-, Drogerie- und Baumärkte das Leben in Deutschland aufrechtzuerhalten schienen, präpariert sich die deutsche Wirtschaft nun für die Rückkehr aus dem Corona-Lockdown. Jetzt sollen Geschäfte, Büros und Fabriken hochgefahren werden. Die meisten Arbeitgeber fragen sich: Was müssen wir angesichts der anhaltenden Gefahr durch das Coronavirus tun?
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) veröffentlichte am 16. April 2020 seinen sogenannten "SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard" (im folgenden nur "Standard"). Er ist seitdem in aller Munde. Plötzlich kursieren überall Checklisten, die gesunde und rechtssichere Arbeitsbedingungen gewährleisten sollen und die im Standard genannten Maßnahmen abarbeiten.
Dabei wirft der Standard, der nach den Worten des Bundesarbeitsministers Hubertus Heil einheitliche und verbindliche Arbeitsschutzstandards festlegt, die beachtet und umgesetzt werden müssen, zahlreiche Fragen auf. Fangen wir am besten von vorne an.
Womit haben wir es überhaupt zu tun?
Der Arbeits- und Gesundheitsschutz wird in Deutschland durch staatliche Vorschriften geregelt, wie das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) oder die Arbeitsschutzverordnungen zum Beispiel für Betriebsstätten (ArbStättV) oder Betriebsmittel (BetrSichV). Daneben stehen die Unfallverhütungsvorschriften (UVV) der Unfallversicherung, an die sich Arbeitgeber und Beschäftigte halten müssen. Für alle diese Vorschriften gibt es formale Anforderungen.
Eine verbindliche Rechtsverordnung nach § 18 ArbSchG, die – wie etwa die ArbStättV oder die BetrSichV – mit Zustimmung des Bundesrats erlassen wird, ist der Arbeitsschutzstandard bislang nicht. Er ist auch keine technische Regel, die von den hierzu eingerichteten Ausschüssen, beispielsweise für Arbeitsstätten oder Betriebssicherheit, entwickelt werden.
Außerdem sind Technische Regeln schon gar nicht verbindlich. Der Arbeitgeber, der sie einhält, kann aber davon ausgehen, dass er die Anforderungen der jeweiligen Arbeitsschutzverordnung erfüllt. Wählt er eine andere Lösung, muss er die gleiche Sicherheit und den gleichen Gesundheitsschutz erreichen. Auch wenn der Bundesarbeitsminister den Arbeitsschutzstandard gemeinsam mit dem Hauptgeschäftsführer der Deutschen gesetzlichen Unfallversicherung vorgestellt hat: es handelt sich nicht um eine UVV.
Veröffentlicht wurde der Standard auch nicht im Bundesanzeiger, sondern auf der Homepage des Ministeriums. Die Bundesregierung habe, so ist es dort zu lesen, die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, den Dachverband der Unfallversicherungen sowie die Arbeitsschutzverwaltungen der Bundesländer sowie die Arbeitgeber und Gewerkschaften gebeten "ihre Netzwerke zur Kommunikation ebenso zu nutzen".
So bleibt schon eine der Kernfragen offen: Was ist der Arbeitsschutzstandard denn nun? Denn nur dann lässt sich beantworten, wie verbindlich er auch ist.
Zu weiterer Verwirrung führte übrigens auch das vom Bundesminister in seiner Pressekonferenz vorgestellte 10-Punkte-Papier. Dessen zehn Punkte haben einen anderen Inhalt als der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard, der auf der Homepage des BMAS und der Unfallversicherungen heruntergeladen werden kann. Die zehn Punkte waren eher Leitlinien als Standard und sind mittlerweile auf eine kurze Infografik zusammengeschrumpft.
Das BMAS auf der falschen Baustelle
Gleich die erste dieser zehn Leitlinien ("Arbeitsschutz gilt – ergänzt um Infektionsschutz!") löst weitere Fragen aus. Der Arbeitgeber ist zwar dafür verantwortlich, dass von den Arbeitsbedingungen ausgehende Gefährdungen vermieden werden. Doch das Infektionsrisiko ist keine durch die Arbeit verursachte Gefährdung. Es besteht überall.
Natürlich hat jeder Arbeitgeber ein Interesse, dass seine Beschäftigten arbeiten und seine Kunden bedienen, beraten oder beliefern können. Infektionsschutz ist also auch Arbeitgeberinteresse. Wenn der Arbeitgeber aber verpflichtet werden soll, für die Allgemeinheit tätig zu werden, wäre dies vielmehr über die Vorschriften zum Infektionsschutz zu regeln. Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) richtet sich an den Einzelnen und an Arbeitgeber bestimmter Einrichtungen, etwa in den Bereichen Gesundheitspflege und Betreuung.
Wer entsprechende Pflichten für alle Arbeitgeber begründen will, sollte dies auch so bezeichnen. Zuständig wären jedenfalls das Bundesministerium für Gesundheit bzw. die Länder und ihre Behörden, nicht aber das Bundesarbeitsministerium. Und tatsächlich sind es die Länder, die in ihren Verordnungen Arbeitgeber neben der Erfüllung ihrer arbeitsschutzrechtlichen mehr oder weniger zu Maßnahmen des Infektionsschutzes verpflichten.
Maßnahmen ohne Gefährdungsbeurteilung?
Der Standard selbst beschreibt nun - neben einer kurzen Einleitung und Vorstellungen über seine Umsetzung - konkrete Maßnahmen zum Infektionsschutz. Vorwerfen muss man dem Verfasser, dass er die Paradigmen, die seit über 20 Jahren den Arbeit- und Gesundheitsschutz in Deutschland bestimmen, beiseitelässt: Denn von generell festgeschriebenen Werten und Maßnahmen, die einzuhalten sind, hat man sich schon lange verabschiedet.
Schutzmaßnahmen müssen stattdessen auf die betrieblichen Verhältnisse abgestimmt sein. Voraussetzung für jede Maßnahme ist daher die Gefährdungsbeurteilung nach § 5 ArbSchG, die in einigen Arbeitsschutzverordnungen konkretisiert wird. Mit ihr werden die betrieblichen Verhältnisse auf Gefährdungen untersucht, um dann die für den jeweiligen Betrieb, die Arbeit und die Beschäftigten passenden Maßnahmen abzuleiten.
Der Begriff "Gefährdungsbeurteilung" taucht im Standard nur an einer Stelle auf – dort aber mit Bezug auf "Verantwortung" und eben nicht als Voraussetzung für Maßnahmen.
Was der neue Standard verlangt
Bei allen seinen Maßnahmen muss der Arbeitgeber die in § 4 ArbSchG definierte Reihenfolge einhalten: Lässt sich die Gefährdung grundsätzlich vermeiden? Das wäre wohl nur möglich, wenn gar nicht oder in Insolation gearbeitet wird. Für einige Berufe ist das unmöglich. Der Standard sieht deshalb vor, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, Büroarbeit "nach Möglichkeit im Homeoffice" ausführen zu lassen und andernfalls die Mehrfachbelegung von Räumen zu vermeiden.
Grundsätzlich muss der Arbeitgeber nach dem Standard zunächst an technische Schutzmaßnahmen wie zum Beispiel Trennwände denken. Wo technische Maßnahmen nicht ausreichen oder nicht möglich sind, muss er organisatorische Maßnahmen, etwa zur Raumnutzung, treffen. Personenbezogene Maßnahmen, zu denen unter anderem Schutzmasken und -anzüge zählen, sind nachrangig zu allen anderen Maßnahmen, weil sie den Beschäftigten am meisten beeinträchtigen. Immerhin nennt der Standard diese Rangfolge und listet seine Maßnahmen in dieser Reihenfolge auf. Der Betriebsrat darf über Schutzmaßnahmen übrigens mitbestimmen.
Arbeitgeber genügen ihren Pflichten aber keineswegs, wenn sie nur alle Maßnahmenempfehlungen des Standards umsetzen, ohne die betrieblichen Verhältnisse zu berücksichtigen. Schutzmaßnahmen müssen dem jeweiligen Stand von Technik, Arbeitsmedizin und Hygiene sowie sonstigen gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen. Angesichts der dynamischen Entwicklung der COVID-19-Erkrankung und widerstreitenden Aussagen der Wissenschaft dürfte es zurzeit schwierig sein, einen solchen State of the Art für länger als einen Tag festlegen zu wollen. Sind die Maßnahmen des Standards also auf dem neuesten Stand? Ein Beraterkreis soll für Anpassungen des Standards sorgen.
Und jetzt?
Der Standard ist damit sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Arbeitgeber kommen nicht umhin, die konkreten Arbeitsbedingungen zu beurteilen und für ihren Betrieb passende Schutzmaßnahmen zu treffen. Der Standard kann mit seinen genannten Maßnahmen eine Hilfe bei der praktischen Umsetzung sein.
Doch Achtung: Er ist kein Allheilmittel und bietet keine Garantie. Das sollten Arbeitgeber wissen, wenn sie zum Beispiel die Wiedereröffnung ihres Betriebs angehen – auch wenn sie vor seiner Verbindlichkeit weniger Angst haben müssen, als der Minister meint. Mal abwarten, ob es in naher Zukunft einen Nachschlag aus dem BMAS gibt.
Dr. Martin Lützeler ist Partner bei der Wirtschaftskanzlei CMS Deutschland. Er berät als Fachanwalt für Arbeitsrecht Unternehmen in allen arbeitsrechtlichen Fragen, insbesondere zu Risikothemen wie dem Arbeits- und Gesundheitsschutz.
Neuer Arbeitsschutzstandard aus dem BMAS: . In: Legal Tribune Online, 04.05.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41494 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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