Debatte um Wehrgerechtigkeit: Wehrpf­licht für Wil­lige?

Gastbeitrag von Dr. Patrick Heinemann

18.04.2023

Seit dem Angriff auf die Ukraine wird über eine Rückkehr zur allgemeinen Wehrpflicht diskutiert. Ob die Motivation der Wehrpflichtigen künftig ein Auswahlkriterium sein könnte, fragt Patrick Heinemann im Gespräch mit Carlo Masala.

Der russische Großangriff auf die Ukraine und das Ausrufen einer sicherheitspolitischen Zeitenwende werfen verstärkt die Frage auf, ob Deutschland zur allgemeinen Wehrpflicht zurückkehren sollte. Der Gesetzgeber schaffte die in Art. 12a Grundgesetz (GG) vorgesehene Dienstpflicht im Jahr 2011 nicht vollständig ab, sondern setzte sie durch eine Änderung des Wehrpflichtgesetzes (WPflG) lediglich bis auf Weiteres mit Ausnahme von Zeiten des Spannungs- und Verteidigungsfalles aus. Hintergrund war vor allem die Annahme, dass man das damals vorrangige Einsatzspektrum internationaler Stabilisierungsoperationen mit einer Berufsarmee besser und sogar kostengünstiger bewältigen könne.

Diese Vorstellung haben allerdings schon wenig später die Annexion der Krim im Jahr 2014 und die de facto russische Teilbesetzung des Donbass, spätestens aber die im Februar 2022 begonnene Invasion Russlands in Frage gestellt. Inzwischen gilt es als Allgemeinplatz, dass sich die Bundeswehr so schnell wie möglich wieder sehr viel stärker auf ihre ursprüngliche Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung konzentrieren muss.

Pistorius: "Ein Fehler, die Wehrpflicht auszusetzen"

Streit herrscht unter Fachleuten hingegen, ob eine Rückkehr zur allgemeinen Wehrpflicht hierfür ein geeignetes Mittel ist. Während sich die CDU schon seit Längerem für eine allgemeine Dienstpflicht stark macht, bezeichnete es Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) erst vor Kurzem als Fehler, die Wehrpflicht auszusetzen, und zeigte sich für eine Rückkehr offen. Klar ist jedenfalls, dass die dafür erforderlichen Strukturen erst kostspielig wiederaufgebaut werden müssten. Die FDP-Verteidigungsexpertin Agnes Strack-Zimmermann rechnet hier mit einem zweistelligen Milliardenbetrag. 

In Relation zum beschlossenen Sondervermögen von 100 Milliarden Euro zur Ausstattung der Bundeswehr scheint diese Größenordnung vielleicht nicht mehr ganz so beeindruckend. Zudem sagt sie nichts darüber aus, inwieweit die Rückkehr zur Wehrpflicht erforderlich ist. Zweifel daran hegt etwa Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, gegenüber LTO: "Ich bin gegen die Rückkehr zu einer Wehrpflicht, wie wir sie früher hatten. Wenn das das Ziel ist, lehne ich das ab." 

Auch mit Blick auf die veränderte sicherheitspolitische Situation und die Erfahrungen der Ukraine mit ihrer Wehrpflichtarmee bezweifelt Masala, dass Deutschland ein aus Wehrpflichtigen rekrutiertes Massenheer braucht: "Im Unterschied zur Ukraine würde sich Deutschland entweder im NATO-Verbund oder zumindest in einer Koalition der Willigen verteidigen." Aus seiner Sicht sind zudem die Möglichkeiten, den Personalkörper anderweitig aufwachsen zu lassen, nicht ausgeschöpft. 

Masala: Einberufung nach Einstellung und Motivation

"Sollte der politische Zug jedoch in Richtung Wiedereinführung der Wehrpflicht rollen, dann sollte man sich wenigstens an dem Modell orientieren, das in Norwegen und Schweden praktiziert wird", schlägt Masala im Gespräch mit LTO vor. Die beiden skandinavischen Länder pflegen eine Einberufungspraxis, die nicht nur nach körperlicher Eignung auswählt, sondern auch nach Einstellung und Motivation der Gemusterten fragt. 

So kehrte Schweden im Jahr 2017 unter der damals sozialdemokratischen Regierung zu einer entsprechend modifizierten Form der Wehrpflicht zurück. Die jungen Erwachsenen kommen dabei zwingend mit den Streitkräften in Kontakt und müssen sich zu ihnen in irgendeiner Form verhalten – ein bisschen wie bei der im Zusammenhang mit der Organspende immer wieder diskutierten Widerspruchslösung. Ein vergleichbares Modell führte Norwegen im Jahr 2015 ein.

Eine solche Lösung würde freilich eine Verfassungsänderung erforderlich machen, da Art. 12a Abs. 1 GG eine Wehrpflicht bislang nur für Männer zulässt. 

Anforderungen der Verfassung

Doch wie allgemein muss die Wehrpflicht schon nach heutigen Maßstäben des Grundgesetzes sein? Die verbreiteten gesellschaftspolitischen Vorstellungen von der regelmäßig eingeforderten Wehrgerechtigkeit entsprechen dabei nicht notwendig den Anforderungen der Verfassung. Diese hält selbstverständlich Parameter und Grenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung eines allgemeinverbindlichen Wehrdienstes bereit. 

Zum vierzigjährigen Bestehen der Bundeswehr im Jahr 1995 mahnte Bundespräsident Roman Herzog, die Wehrpflicht sei "ein so tiefer Eingriff in die individuelle Freiheit des jungen Bürgers, dass ihn der demokratische Rechtsstaat nur fordern darf, wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich gebietet". Damit sind verfassungsrechtlich sowohl Sinn und Zweck der allgemeinen Wehrpflicht als auch der darauf bezogene Maßstab der Verhältnismäßigkeit angesprochen. Einberufen werden darf nur insoweit, wie hierfür ein Bedarf für die Funktionsfähigkeit der Streitkräfte besteht. 

Dem für den Wehretat zuständigen Bundestag kommt jedoch bei der Bestimmung des Bedarfs eine weite Einschätzungsprärogative zu, die verfassungsgerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist. Je geringer der Bedarf an Wehrpflichtigen ist, desto weniger werden allerdings einberufen, umso weniger allgemein ist die Wehrpflicht. 

Gleichbehandlungsgrundsatz und Wehrpflicht

Inwieweit muss sich die Einberufungspraxis an den Gleichbehandlungsgrundsätzen des Art. 3 GG orientieren? Im Ausgangspunkt muss man sich dabei klar machen, dass der nur für Männer in Art. 12a Abs. 1 GG verankerten Wehrpflicht grundsätzlich der gleiche Verfassungsrang zukommt wie Art. 3 GG. Diese Art der Ungleichbehandlung ist also bereits vom Verfassungsgeber in der Verfassung angelegt und gewollt. Allein deshalb könnte ein Wehrpflichtiger also keine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen seine Einberufung erheben. Die Figur des verfassungswidrigen Verfassungsrechts greift nicht bei einer Kollision von Verfassungsnormen, die wie Art. 12a Abs. 1 GG und Art. 3 GG normenhierarchisch auf der gleichen Stufe stehen.

In der Folge müssen sich auch einfachgesetzliche Regelungen der Wehrpflicht nicht an Art. 3 Abs. 2 GG messen lassen, der eine Gleichberechtigung von Frauen und Männern verlangt, was zu der in Art. 12a Abs. 1 GG nur für Männer angeordneten Wehrpflicht erkennbar in Widerspruch steht. Eine Gleichbehandlung ist nur innerhalb des von Art. 12a GG gezogenen Rahmens verfassungsrechtlich geboten. Dabei verlangt der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG aber nicht etwa, dass alle wehrdiensttauglichen Männer zum Grundwehrdienst herangezogen werden. Der Einberufungspraxis ist nach dem Gebot der Wehrgerechtigkeit lediglich insofern eine Grenze gesetzt, dass sich bei einem Personalbedarf, der das verfügbare Reservoir an grundsätzlich Wehrdienstfähigen unterschreitet, die Auswahl an sachlichen Kriterien zu orientieren hat. 

Grundsatz der Lastengleichheit

Nach Maßgabe sachlicher, objektiv nachprüfbarer Kriterien hat die Einberufungspraxis umfassend und gleichmäßig zu erfolgen, um dem mit der Idee einer allgemeinen Wehrpflicht verbundenen Grundsatz der Lastengleichheit zu entsprechen. Das schließt eine willkürliche Einberufungspraxis aus, verlangt aber im Ergebnis eben keine lückenlose Heranziehung aller Wehrdienstfähigen. Grundsätzliche Ausnahmen für bestimmte Gruppen bedürfen dabei einer einfachgesetzlichen Grundlage. 

Im Übrigen kommt dem Bundesminister der Verteidigung bei der Gestaltung der Kriterien im Rahmen von sogenannten Einberufungsanordnungen ebenfalls ein Ermessen zu, dessen Ausübung sich gerichtlich nur auf die Einhaltung von dessen rechtlichen Grenzen überprüfen lässt. Die frühere Einberufungspraxis der Bundeswehr hatte sich dabei zumindest formal vorrangig an wehrmedizinischen Eignungskriterien orientiert. 

Das muss allerdings nicht heißen, dass andere Kriterien von vornherein nicht in Betracht kommen. So ist nicht nur die physische Verfassung, sondern auch die Moral der Truppe von erheblicher Bedeutung für ihre Schlagkraft, wie sich aktuell am Vergleich der russischen mit den ukrainischen Streitkräften beobachten lässt. Motivation und Einstellung der Gemusterten könnten also durchaus ebenso sachliche Auswahlkriterien darstellen, wie es Carlo Masala mit Bezug auf das Beispiel der schwedischen Streitkräfte vorschlägt.

Dr. Patrick Heinemann ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Partner bei Bender Harrer Krevet, Freiburg.

Kanzlei des Autors

Zitiervorschlag

Debatte um Wehrgerechtigkeit: . In: Legal Tribune Online, 18.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51564 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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