Das Völkerrecht kennt ein spezifisches Kriegsverbrechen zum Schutz von Friedensmissionen. Aber wann ist ein Angriff wirklich strafbar? Lina Rolffs erläutert Voraussetzungen und Grenzen des Tatbestandes.
Die UN-Friedensmission im Libanon (United Nations Interim Force in Lebanon, UNIFIL) geriet im Zuge der Auseinandersetzung zwischen dem israelischen Militär und der Hisbollah in den vergangenen Wochen mehrfach unter Beschuss. Nachdem zunächst das israelische Militär unter anderem einen Beobachtungsturm zerstört hatte und mit Panzern in einen UN-Posten eingedrungen war, stand die Mission zuletzt unter Raketenbeschuss, welcher der Hisbollah oder den mit ihr verbundenen Gruppen zugeordnet wird. Bei einem Angriff auf ein Fahrzeug an einem Checkpoint wurden am Donnerstag Blauhelmsoldaten, die sich in der Nähe aufgehalten hatten, leicht verletzt. Ein Vorfall, bei dem ein Schiff der deutschen Marine eine Drohne unbekannten Ursprungs abwehrte, wird derzeit noch untersucht.
Der UN-Generalsekretär verurteilte die ersten Vorfälle im Oktober und rief alle Konfliktparteien zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts auf. Angriffe auf Friedensmissionen verstießen gegen das Völkerrecht und könnten sogar Kriegsverbrechen darstellen, so Guterres im Oktober. Damit lenkte der Generalsekretär neben seinen diplomatischen Appellen für einen kurzen Moment die Aufmerksamkeit auf die schärferen Waffen der internationalen Friedenssicherung: einen Kriegsverbrechenstatbestand im Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, der spezifisch auf den völkerstrafrechtlichen Schutz von Friedensmissionen abzielt (Art. 8 Abs. 2 lit. b iii) Rom-Statut für den internationalen bewaffneten Konflikt und Art. 8 Abs. 2 lit. e iii)) für den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt.
Dabei bleibt der Verweis auf völkerrechtliche Straftatbestände in der diplomatischen Klaviatur hochrangiger Diplomaten und Politiker üblicherweise eher abstrakt. Ein Bezug zu konkreten Vorfällen wird meist vermieden, wenngleich schon die Erwähnung im unmittelbaren Zusammenhang mit einem Vorfall weitgehend ist. Diese Zurückhaltung liegt aber nicht nur an diplomatischer Höflichkeit. Gerade Kriegsverbrechen, die vor Angriffen auf Zivilisten oder auf Friedensmissionen schützen sollen, setzen Tatsachen voraus, die regelmäßig zur Zeit der Handlung und den ihr unmittelbar folgenden Stellungnahmen noch nicht (öffentlich) bekannt sind.
Wann also wird aus dem diplomatischen Appell, Friedensmissionen zu schützen, ein handfester Fall für den Internationalen Strafgerichtshof?
Friedensmission mit UN-Mandat
Die entsprechende Vorschrift im Rom-Statut setzt vorsätzliche Angriffe u.a. auf Personal oder Fahrzeuge voraus, die an einer Friedensmission beteiligt sind, solange diese Anspruch auf den Schutz als Zivilisten im bewaffneten Konflikt haben.
Vergleichsweise einfach zu bestimmen sind die tatsächlichen Grundlagen für die Einordnung einer Einheit als Friedensmission und für die Bewertung des Schutzanspruchs dieser Mission nach dem humanitären Völkerrecht. Ersteres ergibt sich aus der friedensbezogenen Zielrichtung der Mission, der multinationalen Truppenzusammensetzung und der Verantwortlichkeit der Vereinten Nationen mit einem entsprechenden Mandat.
Hinter der letzteren Anforderung steht die Voraussetzung, dass es sich bei Personal und Objekten der Mission um Zivilisten bzw. zivile Objekte im Sinne der Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen handeln muss.
Friedenstruppen als Zivilisten
Diese Anforderung steht nur scheinbar in Widerspruch zur militärischen Zusammensetzung und Ausrüstung von Friedensmissionen. Denn der Status eines Zivilisten wird im humanitären Völkerrecht allein in Abgrenzung zu Kombattanten definiert. Er steht damit zunächst jeder Person zu, die nicht zu den Streitkräften (oder auch nicht-staatlichen bewaffneten Gruppen) einer Konfliktpartei gehört.
Obwohl Friedensmissionen sich auch aus Kontingenten nationaler Armeen zusammensetzen, trifft dies auf einen Großteil zu: Es handelt sich zwar um Streitkräfte, aber sie können – bei unparteiischer und gewaltfreier Mandatsausübung – keiner der Konfliktparteien zugeordnet werden und sind üblicherweise auch keine weitere Partei des Konflikts. So auch im Libanon: Tatsachen, die eine Parteiergreifung UNIFILs für eine der Konfliktparteien oder eine sonstige Beteiligung am Konflikt vermuten ließen, sind nicht ersichtlich.
Zivilisten – und damit auch Friedensmissionen – können ihren Schutzanspruch aber verlieren, wenn und solange sie sich unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligen. Auch hierfür gibt es in der öffentlichen Berichterstattung zu den Vorfällen um UNIFIL keinerlei Anhaltspunkte. Es wird nicht einmal von Verteidigungshandlungen in den akuten Angriffssituationen berichtet, die den Schutzstatus aber auch nicht entfallen lassen würden.
Das Angriffsziel ist entscheidend
Schwieriger wird es aber bei der Bestimmung des Angriffsziels, das notwendigerweise ein subjektives Element enthält. Hierauf gründet oft die Zurückhaltung in öffentlichen Stellungnahmen. Und hierauf zielen auch regelmäßig die medial verbreiteten, rechtfertigenden Statements von Konfliktparteien ab, weshalb ein objektiv nicht zu leugnender Angriff auf eine Friedensmission jedenfalls kein solcher im Sinne des Völkerstrafrechts gewesen sein soll.
Denn dafür müsste sich der Angriff gezielt und absichtlich gerade gegen die Friedensmission richten. Mit dieser Anforderung vollzieht sich – im Gleichlauf mit dem Tatbestand des Angriffs auf Zivilisten – die Differenzierung zwischen dem strafbaren Angriff und nicht strafbaren, militärischen Aktionen, die trotz eines zivilen Schadens vom humanitären Völkerrecht toleriert werden.
Zielt ein Angriff auf eine Stellung, Personal oder militärische Objekte der anderen Konfliktpartei, ist ein Angriff auf Friedensmissionen tatbestandlich ausgeschlossen – selbst, wenn diese Stellung sich in unmittelbarer Nähe zur Friedensmission befindet und Schäden und Verluste bei der Mission wahrscheinlich oder unvermeidbar erscheinen. So sprechen etwa die spärlichen Informationen über den letzten Vorfall, bei dem fünf UNIFIL-Soldaten durch einen israelischen Angriff auf ein Fahrzeug zu Schaden gekommen sind, dafür, dass der Angriff auf ein Fahrzeug zielte, das nicht zur Mission gehörte. Eine Einordnung dieses anderen Ziels als militärisches oder ziviles Ziel (mit entsprechenden Folgen für andere Straftatbestände) lässt sich auf der Grundlage der bekannten Informationen wiederum nicht vornehmen.
Proportionalitätsprinzip als Grenze
Die Grenze ist in diesem Fall das Proportionalitätsprinzip, eine Abwägung der Verhältnismäßigkeit von zivilen Opfern im Vergleich zum militärischen Nutzen der Aktion. Verfolgt ein gezielter Angriff auf eine Friedensmission hingegen nur mittelbar militärische Ziele im Konflikt – etwa den Ausfall von aus Sicht des Täters hinderlichen friedenssichernden Patrouillen oder Pufferfunktion der Mission zwischen den Konfliktparteien – ist das Tatbestandsmerkmal dennoch erfüllt.
Soweit Israel der Hisbollah vorwirft, die Mission als Schutzschild zu benutzen, sind konkrete Umstände, die vermuten lassen, dass sich Angriffe tatsächlich nicht gegen die Friedensmission, sondern gegen ein nahegelegenes militärisches Ziel des Gegners richteten, jedoch bislang nicht dargelegt. Auch umgekehrt gibt es keine Anhaltspunkte für ein militärisches Ziel der Hisbollah oder der mit ihr verbundenen Gruppen im Hinblick auf den Raketenbeschuss der Mission. Es erscheint aber nicht ausgeschlossen, dass die wahren militärischen Ziele (noch) nicht öffentlich bekannt sind und eine sichere Einordnung daher derzeit nicht möglich ist.
Keine vorschnellen Verurteilungen – aber Aufklärung erforderlich
Die absichtsvolle Zielrichtung des Angriffs eröffnet damit zunächst eine Unschärfe zwischen absichtlichem Angriff und vom Völkerrecht noch toleriertem Kriegsübel, die in der Volatilität und Unübersichtlichkeit heißer Konflikte meist nicht einfach ohne Weiteres zu klären ist. Dies mag in der Öffentlichkeit als unbefriedigend oder gar als Schwäche des Völkerstrafrechts wahrgenommen werden. Aber schnelle Schuldzuweisungen sind nun einmal nicht die Domäne des Strafrechts. Hier mag man sich vergegenwärtigen, dass auch deutlich einfacher gelagerte Straftaten – vom Raub zum Ladendiebstahl - erst nach gründlicher und zeitaufwändiger Beweisaufnahme festgestellt werden können.
Das heißt aber nicht, dass der Straftatbestand bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung keine Wirkung entfaltet. Denn allen Akteuren ist die vom Völkerstrafrecht gesetzte Grenze bewusst. Und auch, dass sie bei Angriffen bei Angriffsmissionen mit schweren – strafrechtlichen – Konsequenzen zu rechnen haben.
Es ist deshalb richtig, in der öffentlichen Diskussion keine vorschnellen Verurteilungen auszusprechen. Es ist jedoch auch richtig, den Beteiligten aufgrund der bislang bekannt gewordenen Tatsachen die Strafbarkeit von Angriffen auf Friedensmissionen als Kriegsverbrechen in Erinnerung zu rufen und eine Aufklärung der Vorfälle zu fordern.
Dr. Lina Rolffs LL.M. (Cape Town) ist Rechtsanwältin in Köln. In ihrer 2018 erschienen Dissertationsschrift "Angriff auf Friedensmissionen" hat sie vergangene Angriffe sowie den völkerstrafrechtlichen Tatbestand eingehend untersucht und Thesen zur systematischen Weiterentwicklung des völkerrechtlichen und völkerstrafrechtlichen Verständnisses von Friedensmissionen aufgestellt.
UNIFIL-Beschuss im Libanon: . In: Legal Tribune Online, 08.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55818 (abgerufen am: 08.11.2024 )
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