Reaktionen auf Koalitionsvertrag: "Der Geist von Libe­ra­lität und Rechts­staat­lich­keit ist zurück"

von Hasso Suliak

25.11.2021

Überwiegend positiv haben Verbände und Bürgerrechtsorganisationen auf die rechtspolitischen Pläne der Ampel-Koalition und den neuen Koalitionsvertrag reagiert. Einige von ihnen sehen darin eine Reihe ihrer Kern-Forderungen umgesetzt.

Selten hat ein Koalitionsvertrag so viel Wohlwollen bei juristischen Verbänden, Bürgerrechtlern, Frauenrechts- und LGBTI-Organisationen hervorgerufen, wie der, den die Parteispitzen von SPD, Grünen und FDP am Mittwoch in Berlin präsentierten. Den Anspruch der Ampel-Partner, bis 2025 in diversen Politikfeldern "die notwendige Modernisierung voranzutreiben", bewerten die meisten Bürgerrechtsorganisationen als weitgehend gelungen.

Mit Lob reagierte etwa die Präsidentin des Deutschen Juristinnenbundes, Prof. Maria Wersig, auf die frauenpolitischen Aspekte im 177-seitigen Papier: "Der Koalitionsvertrag verspricht an einigen wichtigen rechtspolitischen Baustellen endlich Handeln nach Jahren des Stillstands und zum Teil schreiender Ungerechtigkeit. Das betreffe, so Wersig, das Abstammungsrecht, die Modernisierung des Familienrechts, die Abschaffung des Transsexuellengesetzes sowie die Abschaffung von § 219a Strafgesetzbuch (StGB).

219a StGB verbietet es Ärztinnen und Ärzten, für Abtreibungen unter Hinweis auf Methoden oder Ähnliches zu werben. Die Ampel hat jetzt beschlossen, die Norm, um die in der letzten Wahlperiode hitzige Diskussionen stattfanden und gegen die die verurteilte Frauenärztin Ärztin Kristina Hänel Verfassungsbeschwerde eingereicht hat, zu streichen. "Ärztinnen und Ärzte sollen öffentliche Informationen über Schwangerschaftsabbrüche bereitstellen können, ohne eine Strafverfolgung befürchten zu müssen", heißt es im Koalitionsvertrag.

"Schwammige Aussagen zur Parität"

Positiv würdigte Wersig auch, dass die Ampelparteien sich bei der Bekämpfung gesellschaftlicher Diskriminierung noch einmal das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) vornehmen wollen und weitere Schritte bei der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern planen. Diesbezüglich verspricht die Ampel nicht weniger, als die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern zu schließen: "Deshalb werden wir das Entgelttransparenzgesetz weiterentwickeln und die Durchsetzung stärken, indem wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ermöglichen, ihre individuellen Rechte durch Verbände im Wege der Prozessstandschaft geltend machen zu lassen", lautet es im Vertrag.

Dagegen hätte sich die DJB-Präsidentin bei anderen, "dicken rechtspolitischen Brettern, wie z.B. dem Thema Parität", durchaus mehr Konkretes gewünscht: Die Ampel hatte sich im Abschnitt über das Wahlrecht nicht nur auf die Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre, sondern auch auf die Einsetzung einer "Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit" verständigt. Diese soll sich u.a. "mit dem Ziel einer paritätischen Repräsentanz von Frauen und Männern im Parlament befassen und die rechtlichen Rahmenbedingungen erörtern". "Da sind die Formulierungen schon schwammiger", es sei mit "intensiven Diskussionen" zu rechnen, meinte Wersig.

"Queerpolitischer Aufbruch"

"Vielversprechender Koalitionsvertrag: Queerpolitischer Aufbruch kommt", überschrieb der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) seine Einschätzung zum neuen Vertrag: Laut LSVD beinhalte das Arbeitsprogramm der Ampel "zentrale Vorhaben mit vielversprechender Signalwirkung, die zu einer "spürbaren Verbesserung der Rechte von Lesben, Schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen (LSBTI) führen könnten.

Dazu gehöre vor allem ein nationaler Aktionsplan gegen LSBTI-Feindlichkeit, ein expliziter verfassungsrechtlicher Diskriminierungsschutz in Artikel 3 des Grundgesetzes (GG), eine Reform des Familien- und Abstammungsrechts für Regenbogenfamilien sowie die Ersetzung des demütigenden Transsexuellengesetzes durch eine menschenrechtskonforme Anerkennung geschlechtlicher Selbstbestimmung.

Paradigmenwechsel bei Migaration und Flucht?

"Licht und Schatten" sehen Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl oder auch die Fachanwälte des Republikanischen Anwaltvereins (RAV) in den Plänen der Koalition zu den Themen Integration, Migration und Flucht.

SPD, Grüne und FDP haben hier einen "Neuanfang und Paradigmenwechsel" angekündigt: Irreguläre Migration soll reduziert, reguläre Migration ermöglicht werden. Gleichzeitig unterstrich die Ampel ihr Bekenntnis "zur humanitären Verantwortung und den Verpflichtungen, die sich aus dem GG, der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und dem Europarecht ergeben, um Geflüchtete zu schützen und Fluchtursachen zu bekämpfen".

Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, wies darauf hin, dass der Vertrag in diesem Bereich allerdings "bedenkliche Leerstellen" aufweise: "Dass weiterhin Kranke und Traumatisierte abgeschoben werden können, darf nicht das letzte Wort sein. Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete werden nicht klar ausgeschlossen. Abschiebungen ins Elend an den EU-Grenzen müssen aufhören." Burkhardt kritisierte, dass der Koalitionsvertrag an diesem Punkt "interpretationsoffen" sei. Zudem appellierte er an die neue Bundesregierung, sich verstärkt gegen systematische Pushbacks zu Land und zu See einzusetzen: "Wir erwarten, dass die neue Koalition in Europa für das Asylrecht kämpft und Menschenrechtsverletzungen gegenüber den EU-Staaten klar benennt."

Positiv reagierte Pro Asyl dagegen auf geplante Verbesserungen beim Familiennachzug und beim Bleiberecht sowie auf die beabsichtigte Abschaffung der Arbeits- und Ausbildungsverbote. "Alle beschlossenen Gesetzesänderungen müssen nun in einem 100 Tage-Programm gesetzlich auf den Weg gebracht werden", so Burkhardt.

RAV: "Keine Reform des rechtswidrigen Systems der Abschiebung"

Kritisch bewertet der RAV die Ankündigungen der Koalitionäre: Zwar fänden sich im Bereich Migration einige Aussagen, "die eine überfällige Abkehr von einer rückwärts ausgerichteten Politik darstellen", anderseits fehle ein "dringend notwendiger Systemwechsel".  Weiterhin gäbe es keine "überfällige grundsätzliche Reform des gesamten rechtswidrigen Systems Abschiebung".

Scharf kritisierten die RAV-Anwält:innen auch "unzureichende Aussagen" zur europäischen Migrations- und Asylpolitik: "Der Auslagerung des Asylrechts in Drittstaaten wird keine unmissverständliche Absage erteilt" Auch sei die Aussage des Koalitionsvertrags im Bereich Asyl zur Abkehr von den Ankerzentren nicht weitgehend genug. "Das gesamte Konzept dieser Zentren ist radikal gescheitert. Absonderungen von Menschen über Wohnverpflichtungen in Lagern, die ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit nicht entsprechen, sind abzuschaffen."

Transparency und Lobby-Control mit Lob

Weitgehend zufrieden reagierte die Antikorruptionsorganisation Transparency International (TI) auf die im Koalitionsvertrag verankerten Maßnahmen für eine konsequentere Bekämpfung von Korruption. In den Bereichen Lobbytransparenz, Verwaltungstransparenz, Whistleblower-Schutz und Geldwäschebekämpfung hat die Ampelkoalition Forderungen von Transparency Deutschland aufgegriffen. Außerdem seien im Bereich Geldwäsche wichtige Fortschritte vereinbart worden, lobte die Organisation.

"Legislativer Fußabdruck, Nachbesserungen am Lobbyregister und der stärkere Einbezug der Arbeitsebene in Ministerien – der Koalitionsvertrag bringt auf dem Weg zu einem fairen, transparenten Lobbyismus wichtige Fortschritte", erklärte die Organisation.  Nach der Maskenaffäre und diversen anderen Lobbyskandalen sei es auch "ein richtiges Zeichen, dass der Straftatbestand der Abgeordnetenbestechung und -bestechlichkeit wirksamer gestaltet werden soll". Kritik übte die TI, dass eine unabhängige Stelle, die die Einhaltung der Regeln durch Lobbyisten und Abgeordnete überprüft, nicht vorgesehen sei.

Die Organisation LobbyControl würdigte, dass sich die Ampelkoalition auf weitergehende Schritte zu mehr Regeln und Transparenz beim Lobbyismus geeinigt habe. "Im Vergleich mit den letzten Wahlperioden handelt es sich um den ambitioniertesten Koalitionsvertrag im Hinblick auf Transparenz und strengere Lobbyregeln", freute sich die politische Geschäftsführung, Imke Dierßen.

Strafrechtler: "Ampel-Pläne machen Mut"

Von Strafrechtlern positiv aufgenommen wurden unterdessen die Pläne der Ampel für den Bereich der Strafrechtspflege: Stefan Conen, Mitglied des Ausschusses Strafrecht im DAV, erklärte gegenüber LTO: "Was die Koalition sich im Bereich der Strafrechtspflege vornimmt, macht nach den von Rechtsstaatsmüdigkeit geprägten Reformen der letzten Jahre wieder Mut für eine evidenzbasierte, empirisch und bürgerrechtlich orientierte Rechtspolitik mit der Kompassnadel der Rationalität statt der Emotionalität", lobte Conen. Im Koalitionsvertrag werde vieles angesprochen, was mehr als überfällig sei – etwa die geplante audio-visuelle Dokumentation der Hauptverhandlung.

Aber auch gesetzliche Regelungen für das bislang nicht normierte V-Personen-Unwesen, das Verbot von staatlichen Tatprovokationen der Bürgerinnen und Bürger sowie die Überprüfung des Sanktionssystems auf seine Zieleffektivität bezeichnete Conen als "drängende kriminalpolitische Vorhaben". Uneingeschränkt zu begrüßen sei laut Conen das im Koalitionsvertrag gegebene Versprechen, hierbei im Zusammenspiel mit der Wissenschaft zu agieren.

Erfreut gegenüber LTO zeigte sich auch RAV-Strafrechtler Prof. Helmut Pollähne: "Was Strafrecht und Kriminalpolitik, Strafjustiz und Polizei betrifft, atmet der Koalitionsvertrag einen Geist der Liberalität und Rechtsstaatlichkeit, den man auf Bundesebene über lange Jahre vermissen musste." Zu begrüßen sei etwa das grundsätzliche Verbot der Tatprovokation sowie die geplante, bessere Kontrolle der Polizei. Diese, so Pollähne, tue Not und es bleibe zu hoffen, dass Signale auf Bundesebene auch bei den Ländern ankommen.“

Etwas enttäuscht zeigte sich unterdessen DAV-Hauptgeschäftsführerin Sylvia Ruge: Sie vermisst im Vertrag "ein ausdrückliches Bekenntnis zum Schutz des Berufsgeheimnisses". In der letzten Legislaturperiode, so Ruge, habe es diesbezüglich zahlreiche Angriffe - etwa beim Unternehmenssanktionenrecht – gegeben. "Hier hätten wir uns eine klare rote Linie gewünscht, dass Einschränkungen des Berufsgeheimnisses abzulehnen sind. Die Vertraulichkeit zwischen Anwaltschaft und Rechtsuchenden ist ein Kern des rechtsstaatlichen Prinzips."

Zitiervorschlag

Reaktionen auf Koalitionsvertrag: . In: Legal Tribune Online, 25.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46758 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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