5. Berliner Gespräche: Got­tes­reich im Arbeits­recht

von Dr. Christian Rath

30.11.2020

Urteile des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesarbeitsgerichts haben Bewegung in die Auseinandersetzung um das kirchliche Sonderarbeitsrecht gebracht. Christian Rath hat eine Tagung der Humanistischen Union verfolgt. 

Caritas und Diakonie sind nach der öffentlichen Hand die größten Arbeitgeber in Deutschland. 690.000 Menschen arbeiten bei oder unter dem Dach der katholischen Caritas und rund 600.000 im Rahmen der evangelischen Diakonie. Es folgen Edeka (352.000 Beschäftigte), VW (280.000) und Deutsche Bahn (205.000).

Deshalb ist es von großer praktischer Relevanz, dass ausgerechnet für die großen kirchlichen Sozialunternehmen ein Sonderarbeitsrecht gilt. Beschäftigte dürfen nicht streiken, um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Auch das Betriebsverfassungsgesetz, das die innerbetriebliche Mitbestimmung durch Betriebsräte regelt, gilt gem. § 118 Abs. 2 nicht für "Religionsgemeinschaften und ihre karitativen und erzieherischen Einrichtungen". Für die einzelnen Beschäftigten gelten (vor allem bei der katholischen Kirche) besondere Loyalitätspflichten, die teilweise bis ins persönliche Leben reichen.

Die Rechtfertigung dieses Sonderarbeitsrechts wird hergebrachterweise in Art. 140 des Grundgesetzes (GG) gesehen, der unter anderem Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) ins Grundgesetz inkorporiert: "Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes", heißt es da. Doch was sind die "Angelegenheiten" der Kirche? Und was bedeuten hier die "Schranken des für alle geltenden Gesetzes?

Die Entlassung der Kirchen in die Freiheit

Dazu veranstaltete die kirchenkritische Bürgerrechtsorganisation "Humanistische Union" (HU) am Wochenende eine zweitägige Konferenz. Ihre "Berliner Gespräche" zum Religionsverfassungsrecht verstehen sich als Gegenpol zu den kirchlich organisierten Essener Gesprächen. In drei Panels diskutierten Experten über die Perspektiven des kirchlichen Arbeitsrechts, nachdem mehrere Gerichtsentscheidungen für Bewegung gesorgt hatten.

Der emeritierte Rechtsprofessor Dr. Bernhard Schlink machte deutlich, dass der oft (despektierlich) als "vorkonstitutionell" bezeichnete Art. 137 Abs. 3 WRV damals gar nicht als Kirchenprivileg verstanden wurde. Die Norm und ihre Vorgänger in der preußischen Verfassung dienten zunächst eher der Entlassung der (im Feudalismus sehr staatsnahen) Kirchen "in die Freiheit". Für die Kirchen sollten gerade die gleichen Gesetze wie für alle gelten.

"In der Weimarer Zeit waren Streiks in kirchlichen Einrichtungen ebenso zulässig wie die Bildung von Betriebsräten", betonte Rechtsanwalt Till Müller-Heidelberg, der langjährige HU-Bundesvorsitzende. Erst nach 1945, so Schlink, sei Art. 137 neu interpretiert worden, um die Rolle der Kirchen zu würdigen, die den Faschismus als "Märtyrer" und "moralisch integer" überstanden hatten.

"Unterwegs im Auftrag des Herrn"

Das Bundesverfassungsrecht definierte 1985 in einer Grundsatzentscheidung (Beschl. v. 04.06.1985, Az.: 2 BvR 1703/80 u.a.) das "Selbstbestimmungsrecht" der Kirchen. Danach können diese den Umfang des Bereichs, in dem besondere Loyalitätspflichten gelten sollen, selbst festlegen.

2014 (Beschl. v. 22.10.2014, Az.: 2 BvR 661/12) wurde dies durch einen Zwei-Stufen-Test modifiziert. Auf der ersten Stufe bestimmen die Kirchen selbst, welche Aufgaben vom speziellen kirchlichen Arbeitsrecht erfasst werden sollen. Staatliche Gerichte dürfen hier nur eine Plausibilitätsprüfung vornehmen. Auf der zweiten Stufe werden dann die kirchlichen Belange mit anderen Belangen, etwa denen der Beschäftigten abgewogen.

Uta Losem vom Katholischen Büro der Deutschen Bischofskonferenz begründete bei den Berliner Gesprächen am Wochenende die Notwendigkeit eines besonderen Arbeitsrechts in ihren sozialen Einrichtungen: "Die caritative Tätigkeit ist kein rein sozialer Vorgang, sondern hat eine religiöse Dimension. Sie beruht auf dem Sendungsauftrag Jesu und ist Ausdruck der Gottesliebe." Es gehe dabei um die "Verwirklichung des Gottesreichs". Der für Parteien und Verlage übliche Tendenzschutz genüge den Kirchen wegen ihrer "transzendenten Dimension" nicht, so Oberkirchenrat Detlev Fey von der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD).

Der kirchenkritische Ex-Richter Peter Stein fragte rhetorisch nach, ob dies auch für den Gärtner gelte, "der vor der Kirche Rosen schneidet". EKD-Mann Fey bejahte: "Wo Kirche draufsteht, muss auch Kirche drin sein". Von der Putzfrau bis zum Chefarzt seien alle "unterwegs im Auftrag des Herrn".

2018: EuGH mit neuen Vorgaben

Zwei Fälle, die über mehrere Instanzen ausgefochten wurden, hatten nun diese hergebrachten Verhältnisse in Bewegung gebracht. Im ersten Fall ging es um den katholischen Chefarzt eines katholischen Krankenhauses. Er war gekündigt worden, nachdem er sich scheiden ließ und eine neue Frau heiratete. Dadurch habe er gegen seine Loyalitätspflichten verstoßen.

Im zweiten Fall klagte die konfessionslose Sozialwissenschaftlerin Vera Egenberger. Sie hatte sich beim Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung beworben, um einen Bericht zur UN-Anti-Rassismus-Konvention zu schreiben. Die Diakonie suchte hierfür jedoch ein Kirchenmitglied und lud Egenberger nicht einmal zum Vorstellungsgespräch ein.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat 2018 in beiden Fällen entschieden (Urt. v. 17.04.2018, Az.: C-414/16 - Egenberger; Urt. v. 11.09.2018, Az.: C-68/17 - Chefarzt), dass die Frage, was zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen gehört, voll gerichtlich überprüfbar ist. Es komme dabei auf die konkrete Tätigkeit an. Die kirchlichen Anforderungen müssten hierfür "erforderlich" sein. Kirchliche Sozialeinrichtungen könnten nur dann von ihren Beschäftigten verlangen, dass sie sich "loyal" im Sinne des "Ethos" der Kirche verhalten, wenn es sich um "wesentliche" berufliche Anforderungen handelt. Auch Art. 17 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der die Neutralität der EU gegenüber dem mitgliedstaatlichen Religionsverfassungsrecht garantiert, könne eine wirksame gerichtliche Kontrolle nicht verhindern.

Auf dieser Grundlage hat dann auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) die beiden Fälle letztlich entschieden. Der nicht eingeladenen konfessionslosen Sozialwissenschaftlerin wurde eine Entschädigung nach dem Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG) zugesprochen (Urt. v. 25.10.2018, Az.: 8 AZR 501/14). Und die Kündigung des neu verheirateten Chefarztes sei rechtswidrig gewesen (Urt. v. vom 20.02.2019, Az.:  2 AZR 746/14).

Wird Karlsruhe intervenieren?

Das katholische Krankenhaus hat schnell darauf verzichtet, Verfassungsbeschwerde einzulegen. "Der Chefarzt wäre heute nicht mehr gekündigt worden", begründete dies Losem vom Katholischen Büro. 2015 hatte die katholische Kirche ihre Grundordnung leicht liberalisiert.

Nach Karlsruhe ging aber die evangelische Seite im Fall Egenberger. Sie verlangt eine Identitätskontrolle. Das EuGH-Urteil, das eine gerichtliche Prüfung des Selbstbestimmungsbereichs zulässt, verletze den unantastbaren Kerngehalt des Grundgesetzes. "Wir müssen uns gegen eine Zwangssäkularisierung zur Wehr setzen", sagte EKD-Oberrat Fey. Er sprach auch von einer "Pulverisierung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts". Auch Rechtsprofessor Dr. Christian Waldhoff sprach von einem "Übergriff" des EuGH. Der "Zwei-Stufen-Test" des Bundesverfassungsgerichts, der den Umfang des Selbstbestimmungsrechts nur einer Plausibilitätskontrolle unterwirft, sei richtig.

Dagegen hielt es Rechtsprofessor Christoph Möllers auf der Veranstaltung am Wochenende für "völlig abwegig", Verästelungen des Arbeitsrechts zur Identität der Bundesrepublik zu rechnen. Auch Schlink hielt eine Identitätskontrolle in diesem Fall für "offensichtlich absurd". Die Trierer Professorin Dr. Antje von Ungern-Sternberg mahnte: "Ultra-Vires-Kontrolle und Identitätskontrolle sind für gravierende Fälle da, nicht zur Klärung begrenzter europarechtlicher Streitfragen." Möllers warnte, das Bundesverfassungsgericht habe bei der Bewertung von EuGH-Rechtsprechung "erhebliche Eigeninteressen".

Ein möglicher Kompromiss könnte sein, dass das Bundesverfassungsgericht nicht die Vorabentscheidung des EuGH angreift, sondern das endgültige Urteil des Bundesarbeitsgerichts, weil es die vom EuGH belassenen Spielräume falsch genutzt habe. Mittelfristig wird sich das Problem ohnehin entspannen: Die Kirche findet kein Personal mehr, wenn sie ihre Anforderungen nicht lockert. Dafür spricht zum einen die demografische Entwicklung, aber auch der konstante Rückgang der Anteil der Kirchenmitglieder.

Interessenausgleich "friedlich ohne Streik"

Besondere Verhältnisse bestehen auch im Kollektiv-Arbeitsrecht der kirchlichen Einrichtungen. Hier vertreten die Kirchen einen "Dritten Weg". Löhne und Arbeitsbedingungen werden in Kommissionen festgelegt, die paritätisch von Arbeitgebern und Beschäftigten besetzt werden. Kann man sich nicht einigen, werden Schlichter bestimmt, deren Spruch grundsätzlich verbindlich ist.

"Wenn wir von einer 'Dienstgemeinschaft' sprechen, heißt das nicht, dass wir Interessensgegensätze ignorieren", sagte Losem vom Katholischen Büro. "Wir wollen den Interessensausgleich aber friedlich und konsensual, nicht durch Streik und Aussperrung."

Der EuGH kann in dieser Konstellation keine Impulse geben, da die EU keine Zuständigkeit für das Arbeitskampfrecht hat. Darauf verwies Rechtsprofessor Dr. Steffen Klumpp von der Uni Erlangen-Nürnberg hin.

Neue Entwicklungen gehen hier jedoch von einem Urteil des BAG aus dem Jahr 2012 aus (Urt. v. 20.11.2012, 1 AZR 179/11). Danach ist der Dritte Weg und sein Streikverbot nur zulässig, wenn die Gewerkschaften darin eine stärkere Rolle einnehmen können. Denn auch im Dritten Weg seien die Arbeitnehmer den Arbeitgebern strukturell unterlegen, so die Erfurter Arbeitsrichter.

Dumping auf dem Dritten Weg?

Die einzige Gewerkschaft, die sich bisher in der arbeitsrechtlichen Kommission der Caritas engagiert, ist  der Ärzteverband Marburger Bund (MB). "Wir nehmen aber nur teil, um die Untauglichkeit des Systems zu belegen", sagte MB-Vertreter Christian Twardy. Der Marburger Bund habe schließlich nur drei von 62 Sitzen in der Kommission der Caritas. Wegen des fehlenden Streikrechts bestehe keine Chance, "Verhandlungsdynamik" zu erzeugen, kritisierte Twardy. Selbst wenn am Ende der Tarifvertrag der kommunalen Kliniken übernommen werde, geschehe dies mit großem zeitlichen Verzug.

Die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) nimmt wegen des weiter bestehenden Streikverbots gar nicht an den arbeitsrechtlichen Kommissionen teil. Verdi-Vertreter Mario Gembus wies außerdem auf die mangelnde Verbindlichkeit der Richtlinien hin, die im Dritten Weg entstehen. Anders als ein Tarifvertrag sind sie nicht unmittelbar anwendbar, sondern müssen wie AGB im individuellen Arbeitsvertrag ausdrücklich in Bezug genommen werden. "Eine Abweichung nach unten ist also leicht möglich", sagte Gembus, "wie oft so etwas vorkommt, ist völlig intransparent."

EKD-Mann Fey verwies darauf, dass die Bezahlung in der Diakonie "signifikant über der anderer Bezahlungssysteme" liege. Katholikin Losem betonte, der Anteil mit Mitarbeitervertretungen liege bei der Caritas über 80 Prozent, also deutlich höher als die Betriebsratsdichte in der freien Wirtschaft. Fey räumte ein, dass in der Diakonie zu oft Betriebsteile outgesourced wurden, um Kosten zu sparen, inzwischen habe aber eine "rückläufige Bewegung" eingesetzt.

Zumindest bei der Pflege haben Kirchen und Gewerkschaften inzwischen einen gemeinsamen Gegner. Weil sich Kommunen immer mehr aus dem Markt der Pflegeheime zurückziehen, hätten kommerzielle Anbieter hier inzwischen einen Marktanteil von rund 50 Prozent. Nur ein ganz kleiner Teil sei tarifgebunden, betonte Losem. Verdi fordert deshalb für den Pflegebereich allgemeingültige Tarifverträge. Losem unterstützte dies mit Verweis auf die katholische Soziallehre.

Wes' Brot ich ess'...

Immer wieder wurde im Verlauf der Tagung darauf gepocht, dass die Kirchen hier mit fremdem Geld agieren. "Wenn kirchliche Sozialeinrichtungen zu fast 100 Prozent vom Staat und den Sozialversicherungen finanziert werden und in der Praxis kaum Unterschiede zu normalen Krankenhäusern sichtbar sind, dann sollte auch kein Sonderrecht gegenüber den Beschäftigten gelten", sagte Ex-Richter Stein.

Rechtsprofessor Waldhoff verwies jedoch auf das Subsidiaritätsprinzip, das zwar keinen Verfassungsrang habe, aber dennoch sinnvoll sei. Danach erbringe der Staat nur dort soziale Leistungen, wo es keine gesellschaftlichen Anbieter wie die Kirchen gebe. Für Waldhoff müssen aber zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens müsse ein Pluralismus der Anbieter bestehen, damit die Bürger auch Wahlfreiheit haben. Außerdem müssten sich die Angebote wirklich unterscheiden. "Ein Kreuz im Krankenzimmer genügt nicht", betonte Waldhoff.

"Die Kirche hat aus der Selbstbestimmung eine Pfründe gemacht", kritisierte Möllers, so könne es nicht weitergehen. Auch Waldhoff sieht eine "heilsame Wirkung" von den EuGH-Urteilen ausgehen. "Die Kirche muss wieder genau hinschauen, wie sie ihre Einrichtungen prägen kann", sagte Waldhoff. Ähnlich äußerten sich Schlink und von Ungern-Sternberg. "Auch der Kirche ist es nicht gleichgültig, wenn ein katholisches Krankenhaus kaum als 'katholisch' wahrgenommen wird", sagte schließlich Losem.

Nach der Rechtsprechung des EuGH zum Individualarbeitsrecht kann aber auch ein erkennbares Profil der Einrichtung nur der Einstieg in die Prüfung sein, ob die die Kirchen Sonderanforderungen an die Beschäftigten stellen darf. In der Abwägung des Einzefalls wird es vor allem von der Art der Tätigkeit abhängen, ob die kirchlichen Sonderanforderungen zulässig sind. Für die Humanistische Union kündigte das Vorstandsmitglied Kirsten Wiese, Rechtsprofessorin aus Bremen, entsprechende "Musterprozesse" an.

Zitiervorschlag

5. Berliner Gespräche: . In: Legal Tribune Online, 30.11.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43578 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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