Der Klimawandel schreitet voran – und viele fordern deshalb ein eigenes Klimagrundrecht. Die geltenden Rechte gewähren aber ausreichenden Schutz, meint Christian Calliess. Denkbar wäre allenfalls ein prozedurales Umweltgrundrecht.
Am 23. Mai 2024 feiern wir "75 Jahre Grundgesetz". Unsere Verfassung bildet seither eine Rahmenordnung für die Politik, deren Einhaltung durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kontrolliert wird. Die Debatte, ob diese durch ein Grundrecht auf Umweltschutz ergänzt werden soll, hat eine Vorgeschichte, die bis in die 1970er Jahre reicht. Letztlich entschied sich der verfassungsändernde Gesetzgeber jedoch 1994 mit Art. 20a GG für ein Umweltstaatsziel. Dieses ergänzt die historischen Errungenschaften des Rechtsstaats, der Demokratie und des Sozialstaats konsequent.
Die objektiv-rechtliche Norm des Art. 20a GG ist nicht individuell einklagbar. Nicht von ungefähr lag sie über Jahrzehnte in einem "Dornröschenschlaf". Zudem räumte das BVerfG dem Gesetzgeber einen erstaunlich weiten Spielraum ein, indem es seine Kontrolle auf evidente Verstöße beschränkte (Evidenzkontrolle).
Mit Blick auf die wissenschaftlich begründete Erkenntnis von planetaren Belastungsgrenzen, die im Klimaschutz durch das im internationalen Übereinkommen von Paris verankerte 1,5 bis 2 Grad-Ziel politische und rechtliche Relevanz entfaltet hat, erlangte Art. 20a GG dann aber eine neue Aufmerksamkeit. Zwar ist der Gesetzgeber, wenn auch spät, mit dem Erlass eines Klimaschutzgesetzes seinen Pflichten aus Art. 20a GG, ein verbindliches, wirksames und kohärentes Schutzkonzept zu erlassen, im Grundsatz nachgekommen. Gleichwohl hat das BVerfG mit seinem Klimabeschluss vom März 2021 die verfassungsrechtlichen Pflichten der Politik aus dem Staatsziel konkretisiert. Im Wege eines neuen grundrechtlichen Konstrukts, der "intertemporalen Freiheitssicherung", hat es diese im Sinne einer "Klimaklage" individuell einklagbar gemacht. Aber braucht es ein eigenes Klimagrundrecht?
Klimaklagen setzen Umweltrecht durch
Befürworter eines Grundrechts auf Umwelt- bzw. Klimaschutz und daran anknüpfend von Klimaklagen haben gute Gründe auf ihrer Seite. Diese überzeugen mit Blick auf die Gewaltenteilung im demokratischen Rechtsstaat vor allem insoweit, als es um konkrete Umsetzungs- und Vollzugsdefizite im Recht und nicht darum geht, abstrakt politisches Handeln einzuklagen.
In diesen Fällen werden die Einzelnen für die Durchsetzung des Klima- und Umweltrechts mobilisiert, damit das "law in the books" zum "law in action" wird. Dementsprechend geht es in den erfolgreichen Klimaklagen um die Umsetzung des Pariser Abkommens, korrespondierender verfassungsrechtlicher Vorgaben (z.B. aus Art. 20a GG) sowie die Einhaltung der diese konkretisierenden Klimaschutzgesetze.
BVerfG: Klimaschutz als "intertemporaler Freiheitschutz"
Freilich ist die gerichtliche Kontrolle der Klimapolitik auch ohne ausdrücklich bestimmte Umwelt- und Klimagrundrechte möglich. Das zeigt nicht zuletzt der Klimabeschluss des BVerfG: Zwar verneinte dieses mit Blick auf den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers eine Verletzung staatlicher Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 GG.
Jedoch nahmen die Karlsruher Richter über das schwer nachvollziehbare Konstrukt der "intertemporalen Freiheitssicherung" samt "eingriffsähnlicher Vorwirkung" eine Kontrolle der Klimapolitik am Maßstab des Pariser Klimaschutzabkommens, Art. 20a GG und des Klimaschutzgesetzes vor. Ansatz ist das für Deutschland nach dem Pariser Abkommen bis 2050 errechenbare CO2-Budget. Im Hinblick darauf legt das BVerfG ein Freiheitsbudget der CO2-Emittenten zugrunde, welches generationengerecht über die Zeit verteilt werden soll.
EGMR wählt "klassischen" Weg über grundrechtliche Schutzpflichten
Den "klassischen", von Rechtsprechung und Wissenschaft vorbereiteten Weg über die grundrechtlichen Schutzpflichten wählte hingegen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. In seiner Grundsatzentscheidung "Schweizer Klimaseniorinnen" vom 9. April 2024 überprüfte er das Schutzkonzept der Schweiz mit Blick auf die Vorgaben des Pariser Klimaschutzabkommens. Im Ergebnis nahm er eine Verpflichtung der Schweiz aus Art. 8 EMRK an, wirksamere Maßnahmen zur Reduzierung der Treibhausgase zu treffen. Schon die berühmte Klimaklage der Nichtregierungsorganisation Urgenda gegen den niederländischen Staat hatte im Jahr 2019 vor dem Hooge Raad in Den Haag Erfolg: Dieser nahm ebenfalls eine derartigen Schutzpflicht aus Art. 8 EMRK an.
Zwar wirft die Zulässigkeitsprüfung des EGMR viele Fragen auf, insbesondere im Hinblick auf die neu eingeführte Verbandsklage. Sein Weg, die Wirksamkeit des klimapolitischen Schutzkonzepts der Schweiz am Maßstab der etablierten grundrechtlichen Schutzpflichten zu überprüfen, ist jedoch überzeugend.
Der komplizierten Konstruktion einer "intertemporalen Freiheitssicherung" hätte es daher auch im deutschen Verfassungsrecht nicht bedurft: Denn schon aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 20a GG ergibt sich die Pflicht des Gesetzgebers, ein wirksames und kohärentes Schutzkonzept zu beschließen. Dieser Weg hätte aber vom BVerfG verlangt, seine Kontrolldichte im Umweltverfassungsrecht gegenüber der bisher praktizierten Evidenzkontrolle – ähnlich dem EGMR – zu intensivieren. Es hätte – wie z.B. in seinen Entscheidungen zum Schutz des ungeborenen Lebens – konsequenterweise auch mit Blick auf den Schutz des geborenen Lebens eine Vertretbarkeitskontrolle am Maßstab des Untermaßverbots durchführen können. Auch durch eine daran anknüpfende Abwägung mit den potenziell betroffenen Freiheitsrechten der Emittenten hätte es – im Ergebnis mit dem Klimabeschluss vergleichbar – die verhältnismäßige Verteilung von Freiheit über die Zeit bis 2050 überprüfen können. Dieses Vorgehen hätte den Gesetzgeber weder mehr noch weniger in seiner Gestaltungsfreiheit beschränkt.
Grundrecht auf das ökologische Existenzminimum
Darüber hinaus lässt sich, analog zur etablierten Rechtsprechung des BVerfG zum sozialen Existenzminimum, aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20a GG ein Anspruch auf das ökologische Existenzminimum ableiten. Hieraus resultiert eine Pflicht des Staates, den Einzelnen einen Mindestbestand an natürlichen Lebensgrundlagen zu gewährleisten.
Insoweit ergeben sich konkretisierende Vorgaben aus dem Art. 20a GG immanenten Vorsorgeprinzip und den planetaren Belastungsgrenzen. Im Zuge dessen müssen die verantwortlichen staatlichen Institutionen darlegen und beweisen, dass ihr Schutzkonzept wirksam genug ist, um ein Überschreiten der planetaren Grenzen zu verhindern.
Die Grenzen eines Umwelt- und Klimagrundrechts
Im Lichte der vorstehenden Überlegungen vermittelt der Vorschlag, ein allgemeines Umwelt- bzw. Klimagrundrecht im Grundgesetz zu verankern, keinen Mehrwert. Vielmehr stößt er auf unterschiedliche Schwierigkeiten. Ein Umweltgrundrecht wirft die Frage auf, inwieweit dem Einzelnen individuelle Rechte an öffentlichen Umweltgütern eingeräumt werden können. Mit anderen Worten, wie könnten seine Gewährleistungen über den bereits gewährleisteten Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) hinausgehen? Sein darüberhinausgehender Schutzbereich wäre konturenlos und kaum zu bestimmen.
Nicht zuletzt würde ein gegen den Staat wirkendes Abwehrrecht einen Großteil der Umweltbeeinträchtigungen, der ja von Privaten ausgeht, nicht erfassen. Zwar wird diskutiert, jede von staatlichen Organen geduldete Umweltbeeinträchtigung dem Staat als Grundrechtseingriff zuzurechnen. Dieses Verständnis würde den grundrechtlichen Schutz aber bedenklich ausweiten. Außerdem würde es den Bezug zur Rechtssphäre des Einzelnen aufgeben, der den tradierten Freiheitsrechten des Grundgesetzes zugrunde liegt. Ein als Abwehrrecht ausgestaltetes Klimagrundrecht erweist sich damit als nicht realisierbar.
Umweltschutz als Ausprägung von Freiheit
Sinnvoll wäre daher allenfalls ein Umweltgrundrecht in prozeduraler Ausgestaltung. Dieses umfasst materiell ein Recht auf eine gesunde Umwelt, das durch Verfahrensrechte auf Information, Partizipation und Zugang zum Gericht konkretisiert wird. Insoweit gibt es verschiedene Vorarbeiten im Völkerrecht sowie im Recht der Europäischen Union, die allesamt darauf ausgerichtet sind, politische Umsetzungs- und Vollzugsdefizite durch Individual- oder Verbandsklagen zu beheben.
Im Übrigen zeigt sich einmal mehr, wie anpassungsfähig das bestehende System des Grundrechtsschutzes in Deutschland und Europa ist. Wie nicht zuletzt der Klimabeschluss des BVerfG zeigt, erweitert sich das Verständnis von Freiheitsschutz. Umweltschutz ist auch als Ausprägung von Freiheit zu verstehen. Freiheit ist intertemporal und daher vom Gesetzgeber gerecht über die Zeit zu verteilen. Dazu bedarf es keines neuen Grundrechts.
Dies gilt jedenfalls unter zwei Voraussetzungen: Der Bundestag muss seiner Verantwortung aus Art. 20a GG mit Blick auf die umweltstaatliche Zukunftssicherung gerecht werden. Dabei kann ein institutionelles Monitoring des vom Gesetzgeber beschlossenen Schutzkonzepts helfen, wenn es frühzeitig, noch im politischen Prozess, Umsetzungsdefizite aufdeckt. Und wenn das nicht gelingt, dann muss das das BVerfG seiner diesbezüglichen Kontrollverantwortung auf Basis der Grundrechte konsequent nachkommen.
Prof. Dr. Christian Calliess ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Umwelt- und Europarecht an der Freien Universität Berlin. Von 2008 bis 2020 war er Mitglied im die Bundesregierung beratenden Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU).
75 Jahre Grundgesetz: . In: Legal Tribune Online, 22.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54587 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag