Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit – dieser Idee entsprechend sollen Gegner der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ihre Grundrechte verwirken können. Passiert ist das allerdings noch nie.
Das Grundgesetz (GG) wird 70 Jahre alt. Das gibt Anlass, um einen Blick auf die wichtigsten Werte der deutschen Gesellschaft zu werfen. Bis zum 23. Mai stellt LTO die wichtigsten Grundrechte vor, ihre Entwicklung und ihre Bedeutung gestern und heute.
Art. 18 GG? Selbst der ein oder andere Jurist dürfte noch einmal kurz nachschlagen müssen, um was es sich da handelt. Das ist keine Überraschung: Im Grundstudium stolpern Jurastudenten höchstens zufällig über diese Regelungen, außerdem ist das bisher letzte Art.-18-Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) über 20 Jahre her.
Vor allem aber: Art. 18 GG gewährt kein eigenständiges Grundrecht, das man für eine Klausur lernen oder in Rechtsgutachten berücksichtigen müsste. Er ist vielmehr ein verfassungshistorisch recht junges Instrument der "streitbaren" beziehungsweise "wehrhaften" Demokratie, wie das BVerfG in diversen Entscheidungen herausarbeitete (z. B. Beschl. v. 14.01.1969, Az. 1 BvR 553/64).
Die Rechte, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung (FDGO) gewährt, sollen nicht dazu missbraucht werden können, diese selbst zu überwinden. Vor dem BVerfG, das darüber entscheidet, ob jemand seine Grundrechte verwirkt, hat es bis heute vier solcher Verfahren gegeben. Alle entsprechenden Anträge haben die Karlsruher Richter jedoch abgewiesen.
Das Kampfmittel der wehrhaften Demokratie
Art. 18 GG betrifft jede natürliche Person, also Deutsche wie Ausländer. Auch inländische juristische Personen können ihre Grundrechte verwirken, sodenn sie nach Art. 19 Abs. 3 GG Träger von Grundrechten sein können. Das ist soweit recht unproblematisch.
Schwammiger wird es beim "Missbrauch" von Grundrechten, auch wenn der Begriff selbst kein Tatbestandsmerkmal ist, wie man vermuten könnte: Art. 18 GG wertet schon den Kampf gegen die FDGO unter Berufung auf Grundrechte als Missbrauch. Die Rechtsfolge ist dann die Verwirkung eben dieser.
Einig ist man sich in der Literatur darüber, dass der Grundrechtsträger vorsätzlich handeln muss und mit dem Ziel, die FDGO zu bekämpfen, also einzelne Teile oder die Ordnung als Ganzes beeinträchtigen oder beseitigen zu wollen. Es herrscht auch weitestgehend Konsens darüber, dass vom Antragsgegner eine fortdauernde, zukünftige Gefährlichkeit ausgehen und sein Verhalten in der Gesamtschau gewürdigt werden muss.
Damit hat es sich aber auch schon in Sachen Einigkeit: Viele tiefergehende Detailfragen, zum Beispiel, ab wann eine "planvolle aggressive Tendenz" des Missbrauchenden vorliegt oder wann von einer notwendigen ausreichenden Gefährdung der FDGO auszugehen ist, sind umstritten. Keine Überraschung also, dass die bisherigen Verfahren nicht zu einer Verwirkung der Grundrechte führten.
Verwirken kann man dabei übrigens "nur" die abschließend aufgezählten Grundrechte: die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Art. 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Art. 8), die Vereinigungsfreiheit (Art. 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10), das Eigentum (Art. 14) und das Asylrecht (Art. 16a).
Eine überschätzte Norm?
Ziemlich weit vorne im GG, sein Verfahren dennoch selten angestrengt und bisher noch keine einzige ausgesprochene Verwirkung von Grundrechten – hat sich der Parlamentarische Rat 1948/49 womöglich verkalkuliert und die Bedeutung des Art. 18 GG überschätzt?
Hinsichtlich der Praxis, in der sich der Staat im Kampf gegen Verfassungsfeinde zum Beispiel lieber auf einfachgesetzliche Regelungen aus dem Strafrecht verlässt oder im Falle von Parteiverboten mit Art. 21 Abs. 2 GG ein geeigneteres Werkzeug vorhanden ist, vielleicht ein wenig.
Art. 18 GG ist aber – und da ist sich die Literatur wiederum einig – von grundsätzlicher Bedeutung "im Gesamtsystem zum Schutz der Grundordnung". So stecke etwa in ihm der elementare Gedanke, "dass der Schutz der betreffenden Grundrechte erst durch die Verwirkung entfällt". Damit soll "die Idee, den vermeintlich defizitären Schutz der Verfassung vor ihren Feinden durch eine Vorverlagerung der Einschreitschwelle zu verstärken [...]", verfassungsrechtlich im Zaum gehalten werden.
Anders gesagt: Als Teil des Grundgesetzes trägt er wesentlich dazu bei, den Maßstab dafür zu definieren, wie "wehrhaft", "streitbar" oder "abwehrbereit" unsere Demokratie eben sein darf. Wenn das mal keinen Platz in den vorderen Reihen unserer Verfassung wert ist.
70 Jahre Grundgesetz – die Grundrechtsverwirkung aus Art. 18 GG: . In: Legal Tribune Online, 04.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35191 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag