Das LG Frankfurt gab 1965 die Richtung vor: Die Urteile im Auschwitz-Prozess prägten jahrzehntelang den Umgang der Justiz mit NS-Verbrechen. Im Fall Gröning haben die Lüneburger Richter jetzt andere Akzente gesetzt.
Sechsmal lebenslang, elf befristete Haftstrafen und drei Freisprüche - mit diesen Urteilen ging vor 50 Jahren der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess zu Ende. "Damit hatte ich nicht gerechnet", erinnert sich der damalige Gerichtsreporter Ulrich Renz. "Ich hatte mehr lebenslange Strafen erwartet und war schockiert, wie gering das Strafmaß zum Teil ausgefallen war."
Der Prozess gegen die ursprünglich 22 Angeklagten - zwei von ihnen schieden dann wegen Krankheit aus - markierte in der Nachkriegszeit einen Einschnitt im Umgang von Justiz und Gesellschaft mit den NS-Verbrechen. Es war nicht das erste Verfahren gegen Personal der Vernichtungslager. Aber zum ersten Mal fand der Massenmord in Auschwitz eine große Resonanz in der Öffentlichkeit.
"Das hat die Leute ziemlich beschäftigt", sagt Renz, der damals für die US-Nachrichtenagentur UPI berichtete und seine Eindrücke aus insgesamt 15 NS-Prozessen später in einem Buch festhielt: "Lauter pflichtbewusste Leute".
Nur "auf Befehl" gehandelt
Als Hauptangeklagter galt Robert Mulka, der als Adjutant des Lagerkommandanten von Auschwitz wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an mindestens 3.000 Menschen angeklagt war. Er wurde zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt - Richter Hans Hofmeyer verwies dabei auf "gewisse Zweifel", ob er die Judenvernichtung "mit eigenem Eifer gefördert hat und mit eigenem Interesse wahrgenommen hat".
Hier sieht Werner Renz, der sich beim Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt intensiv mit den Auschwitz-Prozessen beschäftigt, den Kern einer problematischen Rechtsprechung, die auch die weiteren Verfahren gegen NS-Straftäter geprägt habe: "Menschen, die nur auf Befehl gehandelt und so ihre Pflicht getan haben, haben nach dieser Auffassung weniger Schuld auf sich geladen als andere, die am Aufbau der Lager mitgewirkt haben."
So sagte denn auch der Angeklagte Karl Höcker, ebenfalls Adjutant des Lagerkommandanten, in seinem Schlusswort: "Ich habe keinem Menschen etwas zuleide getan, noch ist jemand durch mich in Auschwitz umgekommen." Er wurde zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt.
Suche nach dem "Direkttäter"
Gerade das Urteil im Fall Höcker habe eine Rechtspraxis verfestigt, die dazu geführt habe, dass nur noch sogenannte Direkttäter von der Justiz belangt worden seien, erklärt Werner Renz - im Unterschied zu jenen, "die nur auf Befehl gehandelt und am Schreibtisch ihre Beteiligung am Holocaust praktiziert haben". Es sei stets nach einem Einzeltatnachweis gesucht worden, anstatt das objektive Geschehen in den Mittelpunkt zu rücken - so wie es Fritz Bauer als Staatsanwalt im Frankfurter Auschwitz-Prozess erreichen wollte.
"Das Landgericht Frankfurt hat die Vernichtung der Juden nicht als eine Tat gewertet, sondern kleinteilig in Einzeltaten segmentiert", bemängelt der Kölner Jurist Cornelius Nestler, der im jüngsten Auschwitz-Prozess gegen den 94-jährigen ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning in Lüneburg die Nebenklage vertreten hat.
Gegen das Gröning-Urteil - vier Jahre Haft wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen - hat die Nebenklage ebenso wie die Verteidigung Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) eingelegt. Die Nebenklage vertritt 50 Überlebende und Angehörige von Opfern und will vor dem BGH eine Verurteilung wegen Mordes und nicht nur wegen Beihilfe dazu erreichen.
Neue Bewertung durch das LG Lüneburg
"Diese Atomisierung der arbeitsteilig durchgeführten, systematischen Vernichtung in Einzeltatbeiträge hat die Strafverfolgung über fünf Jahrzehnte hin erheblich erschwert, in vielen Fällen sogar unmöglich gemacht", sagt Nestler. Das Urteil des Landgerichts (LG) Lüneburg habe Auschwitz nun aber "insgesamt als Einrichtung zum Massenmord" gewertet und werde damit "historisch wie strafrechtlich dem Unrecht der SS-Täter gerecht".
Neben der juristischen Wirkung beeinflussten die Frankfurter Urteile vor 50 Jahren auch den Umgang der Gesellschaft mit der deutschen Vergangenheit. Nach dem Prozess, so erklärt Werner Renz, habe die junge Generation angefangen, die Väter mit Fragen nach ihrem Verhalten in der NS-Zeit zu konfrontieren - ein Konflikt, der in den großen studentischen Aufbruch von 1968 mündete. Das Fragen hört nicht auf, sagt Werner Renz und fügt hinzu: "Dieser Prozess wird nie beendet sein, auch wenn es keine Beteiligten an den Verbrechen mehr geben wird."
dpa/mbr/LTO-Redaktion
Urteile im Auschwitz-Prozess: . In: Legal Tribune Online, 18.08.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16636 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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