Justizminister Buschmann will das Strafrecht entrümpeln. Die Abschaffung von § 353d StGB, der die Veröffentlichung von Entscheidungen aus laufenden Strafverfahren verbietet, wäre besonders sinnvoll. Das zeigt ein neues Urteil des BGH.
Die Flick-Spendenaffäre und die "Letzte Generation" dürfte auf den ersten Blick wohl kaum etwas verbinden – und doch stellt sich damals wie heute dieselbe Frage: Dürfen Journalist:innen bei der Berichterstattung über laufende Ermittlungsverfahren aus internen Dokumenten zitieren oder sie gar veröffentlichen?
Der Journalist und Projektleiter der Informationsplattform "FragDenStaat", Arne Semsrott, veröffentlichte diese Woche drei Beschlüsse des Amtsgerichts (AG) München aus dem laufenden Strafverfahren gegen Mitglieder der "Letzten Generation" und eine Gerichtsentscheidung aus dem Verfahren gegen einen Redakteur von Radio Dreyeckland. Semsrott machte die Gerichtsdokumente anonymisiert online zugänglich. Der Journalist riskiert damit bewusst ein Strafverfahren. Denn die Strafnorm des § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch (StGB) verbietet nach ihrem Wortlaut solche Veröffentlichungen – ohne Ausnahme und ohne Abwägungsmöglichkeit.
Konkret stellt die Norm unter Strafe, die Anklageschrift oder andere amtliche Dokumente eines Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens, ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitzuteilen, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist. Medien – auch LTO – sehen daher in der Regel davon ab, die Beschlüsse zu veröffentlichen oder auch nur wörtlich zu zitieren und behelfen sich damit, ihren Inhalt zu umschreiben. Häufig finden sich dann am Ende der Texte kurze Disclaimer und eine Erläuterung zur potentiellen Strafbarkeit.
Korrekte Berichterstattung wird kriminalisiert
Dabei ist § 353d Nr. 3 StGB Ausdruck eines nicht mehr zeitgemäßen Verständnisses der Gerichtsöffentlichkeit und kriminalisiert "korrekte Berichterstattung". Letzteres ist keine neue Erkenntnis, sondern ein Zitat der früheren Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger aus einem Beitrag, den sie bereits 2007 in der Zeitschrift für Rechtspolitik veröffentlicht hat.
Ein Jahr zuvor hatten die Bundestagsfraktionen von FDP und Bündnis 90/Die Grünen – damals in der Opposition – in jeweils eigenen Gesetzentwürfen vorgeschlagen, die Norm zur Stärkung der Pressefreiheit ersatzlos zu streichen. Eine Forderung, der dann aber weder Leutheusser-Scharrenberger als Justizministerin (2009-2013) nachkam noch die jetzige Ampelkoalition. Dabei hatte Bundesjustizminister Marco Buschmann für dieses Jahr angekündigt, das StGB endlich auszumisten und "auf die Höhe der Zeit zu bringen".
Die Reform zur digitalen Dokumentation der Hauptverhandlung hätte auch ausreichend Anlass geboten, den Sinn der Strafvorschrift des § 353d StGB insgesamt zu überprüfen. Stattdessen soll § 353d StGB – wenig beachtet – nur um eine neue Nummer 4 ergänzt werden, die flankierend eine Veröffentlichung der neuen Aufzeichnungen für alle Zeiten unter Strafe stellt.
Die von Arne Semsrott veröffentlichten Entscheidungen zeigen, wie wichtig Volltextveröffentlichungen für eine informierte Diskussion über umstrittene Ermittlungsmaßnahmen sind. Aktuell geht es vor allem um Maßnahmen gegen Mitglieder der "Letzten Generation" und Unterstützer:innen. Sie haben eine umfangreiche Diskussion um den nach Ansicht von Kritiker:innen zu weiten Straftatbestand der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB hervorgerufen. Die Norm macht es Staatsanwaltschaften angesichts unscharfer Kriterien verhältnismäßig leicht, das gesamte Arsenal strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen auf ganze Gruppierungen anzuwenden, mit erheblichen Auswirkungen auf die Grundrechte einer Vielzahl an Personen. Die veröffentlichten Beschlüsse zeigen nun im Detail auf, auf welcher Tatsachengrundlage und mit welcher Begründung das Gericht den Anfangsverdacht bejaht hat. So lässt sich die Frage diskutieren, ob die vorgeworfenen Taten tatsächlich eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten und unter diesem Gesichtspunkt von einigem Gewicht sind, wie es regelmäßig gefordert wird.
Pressefreiheit nicht berücksichtigt
Wie weit die Ermittlungen in die Gesellschaft hineinreichen, zeigte sich kürzlich, als bekannt wurde, dass die Generalstaatsanwaltschaft München auch das Pressetelefon der "Letzten Generation" auf Grundlage des nun veröffentlichten Beschlusses hatte abhören lassen. Dabei hatten die Ermittler:innen vor der Verlängerung der Maßnahme durch das AG München selbst vermerkt, dass darüber "fast ausschließlich Anfragen von Medienvertretern, Studenten und Schülern ein[gingen], die um eine Presseauskunft oder ein Interview bitten". In den nun veröffentlichten Beschlüssen finden sich keinerlei Anhaltspunkte, dass das Gericht überhaupt die Pressefreiheit in seine Entscheidung einbezogen hat. Weder der ursprüngliche Beschluss noch der Beschluss über die Verlängerung der Maßnahme führen den entscheidenden Art. 5 Grundgesetz (GG) an oder lassen auf andere Art eine Abwägung mit den Grundrechtspositionen erkennen. Dabei musste sich dem Gericht angesichts des Vermerks spätestens vor der Verlängerung der Maßnahme aufdrängen, dass sie Journalist:innen als von der StPO besonders geschützte Berufsgeheimnisträger:innen betraf. Das hätte das Gericht im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung besonders berücksichtigen müssen (vgl. § 160a Abs. 2 StPO).
Aber auch um die von der Staatsanwaltschaft Karlsruhe angestrengte Durchsuchung der Redaktionsräume des Radiosenders Radio Dreyeckland zu bewerten, ist der nun von Arne Semsrott veröffentlichte Beschluss des LG Karlsruhe über die Nichteröffnung des Hauptverfahrens gegen den beschuldigten Journalisten des Senders hilfreich. Der - mittlerweile vom OLG Stuttgart wieder aufgehobene - Beschluss kommt zu dem Schluss, dass die Ermittlungen eindeutig gegen die Pressefreiheit verstoßen. Die dem Journalisten vorgeworfene Verlinkung des Archivs von linksunten.indymedia sei im Rahmen der Berichterstattung von der Pressefreiheit geschützt. Die Kritik an einem Vereinigungsverbot müsse möglich sein, ohne sich als Journalist:in zugleich wegen Unterstützung der verbotenen Vereinigung strafbar zu machen. Der 40-seitige und damit ungewöhnlich umfangreiche Beschluss setzt sich fundiert mit der Strafbarkeit der Linksetzung durch Journalist:innen auseinander. Er bietet so Anlass, sich mit dieser in der Justiz uneinheitlich behandelten, für die tägliche Arbeit von Medienschaffenden aber hoch relevanten Frage sowohl wissenschaftlich wie auch journalistisch vertieft auseinanderzusetzen.
§ 353d Nr. 3 StGB steht einer fundierten Auseinandersetzung im Wege, indem er selbst das wortlautgetreue Zitat aus den Entscheidungen in den Strafverfahren unter Strafe stellt. Zumindest ist das nach der bisherigen Auslegung der (Straf-)Gerichte der Fall. Danach dient die Norm als abstraktes Gefährdungsdelikt dem Schutz der Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten und soll einer Beeinträchtigung der Unvoreingenommenheit von Laienrichter:innen oder Zeug:innen in einer etwaigen Hauptverhandlung vorbeugen.
Hohes persönliches Risiko für Journalisten
Die Strafandrohung von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe setzt eine Schranke mit hohem persönlichem Risiko für die Journalist:innen. Die Norm ordnet die Strafbarkeit unabhängig von der konkreten Verletzung von Persönlichkeitsrechten oder der tatsächlich drohenden Beeinflussung der Verfahrensbeteiligten an. Eine "Presseausnahme" wie etwa in § 86 Abs. 4 StGB sieht sie nicht vor. Aber auch Rechtswissenschaftler:innen sollten aufmerken: Beiträge in Fachzeitschriften fallen ebenso unter das strikte Veröffentlichungs- und Zitierverbot. Das verhindert eine informierte öffentliche Diskussion über hoch relevante Fragen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte dieses Verbot dennoch 1985 anlässlich von Stern-Veröffentlichungen zur Flick-Spendenaffäre und zuletzt 2014 noch für gerechtfertigt gehalten, in der jüngsten Entscheidung allerdings keine Aussage zur Pressefreiheit getroffen.
Allerdings könnte diese Auslegung wanken. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs (BGH) ist sie sogar seit über zehn Jahren überholt. Das Gericht weigerte sich, § 353d StGB in einem presserechtlichen Verfahren zur (zulässigen) Veröffentlichung wörtlicher Auszüge aus Tagebüchern eines Miteigentümers der in den Cum-Ex-Skandal verwickelten Hamburger Warburg Bank als Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB anzuwenden. Der BGH beruft sich dabei auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichthofs für Menschenrechte (EGMR). Der hatte bereits 2011 für genau solche Konstellationen, wie sie § 353d Nr. 3 StGB unter Strafe stellt, eine stets erforderliche Abwägung vorgeschrieben, bei der insbesondere die Bedeutung der Pressefreiheit zu berücksichtigen ist (EGMR, Urt. v. 28.06.2011, Pinto Coelho v. Portugal, Beschwerdenr. 28439/08).
BGH: Wortlaut ist entscheidend
In seiner Entscheidung kommt der BGH nun zu dem Schluss, der bisher angenommene Automatismus der Strafbarkeit ohne Abwägung verstoße im Einzelfall gegen die grundgesetzlich und konventionsrechtlich garantierte Pressefreiheit.
Nach den Urteilsgründen ist "unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs des Normengefüges […] haftungsrechtlich nicht vertretbar, den zivilrechtlichen Rechtsgüterschutz in der Weise vorzuverlagern und zu abstrahieren". Worte, die erst recht für das strafrechtliche Verbot gelten müssten, will man dessen Ultima-Ratio-Funktion ernst nehmen.
Allerdings scheint der BGH die offene Konfrontation mit dem BVerfG zu scheuen, zitiert er doch trotz seiner Aussagen zur Verfassungswidrigkeit der derzeitigen Auslegung keine der zu der Norm ergangenen maßgeblichen Entscheidungen der Karlsruher Nachbar:innen.
Dabei kommt es – anders als es das BVerfG noch in den älteren Entscheidungen gewertet hatte – gerade auf die von § 353d Nr. 3 StGB verbotene wortlautgetreue Wiedergabe an. Das BVerfG hatte es noch für ausreichend erachtet, dass die Norm niemanden an einer inhaltlichen Wiedergabe der Informationen hindere. Abgesehen davon, dass diese Möglichkeit bereits sehr starke Zweifel an der Eignung des Verbots weckt, erscheint die Ansicht doch kaum mehr zeitgemäß. In der aktuelleren äußerungsrechtlichen Rechtsprechung ist gerade die Bedeutung des wörtlichen Zitats allgemein anerkannt. Ihm kommt nach der Rechtsprechung des BGH "wegen seiner Belegfunktion ein besonderer Dokumentationswert im Rahmen einer Berichterstattung" und "eine erhebliche Bedeutung für die öffentliche Meinungsbildung" sowie die "besondere Beweiskraft des Faktums" zu. Bei den in Frage stehenden Dokumenten aus Strafverfahren, insbesondere den Beschlüssen über die Anordnung von Ermittlungsmaßnahmen oder die (Nicht-)Erhebung der Anklage, gilt das womöglich noch verstärkt. Gerade Jurist:innen werden kaum bestreiten können, dass es für die inhaltliche Auseinandersetzung nicht auf die Entscheidung selbst, sondern gerade auf den genauen Wortlaut der Gerichtsentscheidungen ankommen wird.
Auch Strafgerichte sollten diese wichtigen Grundsätze des Presserechts zukünftig in einer Einzelfallabwägung berücksichtigen. Sonst ist absehbar, dass das BVerfG die Möglichkeit erhält, endlich die Rechtsprechung des EGMR zu rezipieren. Oder Marco Buschmann besinnt sich auf die freiheitsrechtliche Tradition seiner Partei und lässt das materielle Strafrecht gerade im Hinblick auf die Pressefreiheit ernsthaft durchleuchten. Beim internationalen Ranking von Reporter ohne Grenzen könnte man da vielleicht ein paar Punkte aufholen.
Dr. Benjamin Lück ist Projektkoordinator bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF). Die GFF unterstützt zusammen mit Reporter ohne Grenzen betroffene Journalisten dabei, das Abhören des Pressetelefons der Letzten Generation überprüfen zu lassen. Sie geht zusammen mit dem betroffenen Redakteur von Radio Dreyeckland gegen die Durchsuchung seiner Wohnung vor.
Reform des § 353d Nr. 3 StGB: . In: Legal Tribune Online, 25.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52567 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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