Entscheidungen fallen im Bruchteil eines Augenblicks. Wer foult, bekommt keinen Rechtsbeistand und kann nicht in Berufung gehen. Der Schiedsrichter ist die letzte Instanz auf dem Platz. Keine einfache Aufgabe und eine, die auf den ersten Blick nicht viel mit der Juristerei gemeinsam hat. Der Rechtsanwalt und Bundesliga-Schiedsrichter Tobias Stieler weiß, dass das nicht stimmt.
Trotz unterschiedlichem Dresscode sind Anwalts- und Schiedsrichtertätigkeit einander nicht so fremd, wie sie auf den ersten Blick scheinen. Fingerspitzengefühl, das braucht sowohl der Anwalt als auch der Schiedsrichter. Der eine bei Verhandlungen mit dem Betriebsrat, der andere bei einer Rudelbildung auf dem Fußballplatz. Der Umgang mit unterschiedlichen Charakteren ist die größte Gemeinsamkeit beider Berufe. Zudem erfordern beide Tätigkeiten Regelkenntnis und -verständnis. Auch wenn Schiedsrichter im Augenblick des Geschehens entscheiden müssen, während Anwälte grundsätzlich in Ruhe recherchieren können.
Tobias Stieler ist Bundesligaschiedsrichter und Arbeitsrechtler bei Hogan Lovells in Teilzeit. Beide Tätigkeiten erfordern großes zeitliches Engagement. Tägliches Training ist ein Muss, genauso wie Spielbesuche, Spielvorbereitungen, Lehrveranstaltungen und physiotherapeutische Maßnahmen. Bei einem Bundesliga-Spiel muss der Schiedsrichter schon am Vorabend am Spielort sein.
Auch wenn eine Karriere als Bundesliga-Schiedsrichter nicht zu planen gewesen sei, habe er während des Studiums und des Referendariats immer auf dieses Ziel hingearbeitet. Heute ist er einer von 22 deutschen Schiedsrichtern, die "das Glück und die Ehre haben, Bundesligaspiele leiten zu dürfen." Insgesamt gibt es in Deutschland etwa 80.000 Fußball-Schiedsrichter.
Zwischen Feldverweisen, Ausschreitungen und Spielabbrüchen
Neben dem Studium empfand Stieler das Pfeifen als nette Abwechslung zum Vorlesungsalltag. Das Ziel – die Bundesliga – rückte jedoch näher und Stieler investierte immer mehr Zeit. Flexibilität und Einsatz haben sich ausgezahlt. So erinnert sich Tobias Stieler gerne daran, wie er noch als Student am Vormittag einen Anruf vom DFB erhielt und er spontan am gleichen Abend ein U21-EM-Qualifikationsspiel leiten durfte – in Athen.
Der Sport begeisterte ihn aber nicht nur auf dem Fußballplatz. Seine Anwaltsstation verbrachte er in einer mittelständischen Kanzlei mit Schwerpunkt im Sportrecht. Ehrenamtlich engagierte sich Stieler als Vorsitzender des Sportgerichts in seinem Heimatkreis. Bei weit über 100 Fußballvereinen kam einiges zusammen an Feldverweisen, Ausschreitungen und Spielabbrüchen.
Bei all dem Aufwand, den beide Tätigkeiten mit sich bringen, kommt es aber auch zu Synergien. "Ganz klar", sagt Tobias Stieler. "Menschenkenntnis und Kritikfähigkeit." Das forderten beide Berufe von ihm. Sowohl als Schiedsrichter als auch als Anwalt sei man mit den unterschiedlichsten Charakteren konfrontiert, die auf ihre Art ihre Interessen durchzusetzen versuchten. Es helfe sehr, wenn man Menschen schnell einzuschätzen wüsste, um zu antizipieren, was geschehen oder wie sich das Gegenüber verhalten wird. "Jeder möchte individuell behandelt werden. Genauso ist es in der täglichen Anwaltsarbeit: Mandanten haben verschiedene Bedürfnisse, die allesamt in der gleichen hohen Qualität und möglichst zeitnah befriedigt werden wollen. Bei beiden Berufen ist es wichtig, vorausschauend zu agieren, Konflikte zu erahnen und zu lösen."
Fußballbegeisterte Mandanten lässt Stieler auch mal hinter die Kulissen blicken
Nicht nur die Mandatsarbeit ist anspruchsvoll, auch der Schiedsrichter wird fußballerisch gefordert. Er steht auf dem Platz im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Spieler, Funktionäre, zehntausende Zuschauer im Stadion und mitunter Millionen an den Fernsehern beobachten seine Arbeit aufs Genaueste.
Dass er Anwalt ist, hilft Tobias Stieler gegenüber den Spielern nur bedingt. "Akzeptanz muss ein Schiedsrichter sich auf dem Feld erarbeiten. Ebenso verhält es sich im Übrigen mit den Mandanten." Für fußballbegeisterte Klienten ist es interessant, wenn Stieler einen Blick hinter die Kulissen des Profisports gewähren kann. "In erster Linie arbeiten sie aber mit mir als Rechtsanwalt zusammen, so dass es ihnen wenig nützt, wenn ich am Samstag Bayern gegen Dortmund pfeife und sie am Montag schlecht berate."
Vergleichbar sei im Übrigen auch die Situation, wenn ein Schiedsrichter oder ein Rechtsanwalt einen großen Fehler mache – im Fußball einen spielentscheidenden, als Rechtsanwalt einen kostspieligen. "Dann interessiert keinen, wie gut man vorher war. Die Leistung wird – zumindest nach außen – nur an diesem 'Fehlurteil' gemessen."
Patrick Buse, Ein Arbeitsrechtler auf dem Fußballplatz: . In: Legal Tribune Online, 08.10.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7242 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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