1945 standen Juristen nicht nur vor den Trümmern ihres Rechtssystems. Während Radbruch den NS-Positivismus in Frage stellte, regelten andere das Recht der zerstörten Städte und legten die Grundpfeiler für Nachkriegsneubauten ohne Stil.
Es war die vielleicht wichtigste Regelung im Kommunalverfassungsrecht der Stadt Frankfurt am Main, seit der wirklich einmal "tragisch" zu Tode gekommene Bürgermeister Karl K. V. Fellner im Jahre 1866 die freie Stadt an die preußischen Eroberer ausgeliefert hatte.
Am 20. Dezember 1946 erließ sein kommissarisch ins Amt gesetzter Nachfolger, Oberbürgermeister Kurt Blaum (1884-1970) die sogenannte Trümmerbeschlagnahme-Anordnung, mit der alle Gebäudetrümmer im Stadtgebiet in kommunalen Besitz übergingen. Der erste Schritt war getan, den vom Bombenkrieg halbwegs verschonten Resten des alten Frankfurter Stadtbilds den Rest zu geben.
Mit Trümmern und Wohnraummangel, bedingt nicht zuletzt durch die zwölf bis 14 Millionen Menschen, die nach Flucht und Vertreibung zwischen 1945 und 1950 auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik unterzubringen waren, befasste sich eine ganze Anzahl von Rechtswissenschaftlern, sobald die ersten juristischen Zeitschriften wieder auf den Markt kamen – im Winter 1945/46 liefen beispielsweise die Vorbereitungen für die ersten Nummern der "Deutschen Rechts-Zeitschrift" und der "Süddeutschen Juristenzeitung".
Wem Radbruch nicht gefällt, greife zu Willibalt Apelt
Beim Stichwort "Süddeutsche Juristenzeitung" wird mancher nachgeborene Jurist kurz zusammenzucken. In der Tat brachte sie in einer ihrer ersten Nummern, im Frühjahr 1946, den berühmten Aufsatz von Gustav Radbruch (1878-1949), der hier den Gedanken formulierte, dass dann, wenn "der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß" erreiche "das Gesetz als 'unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen" habe.
Die berühmte "Radbruch'sche Formel" zählt wohl zum sogenannten examensrelevanten Wissen. Davon abgesehen weiß man zumeist nicht viel von den Gedankengängen deutscher Juristen in den ersten Nachkriegsmonaten. Das ist ein bisschen schade, denn damals stritten sich die Gelehrten durchaus energisch über die Grundfragen von Recht und Staat. Die Autoritätsgläubigkeit, die in Radbruchs Gedanken lag – als könnten es Richter, statt wie alle anderen Bürger zu den Waffen zu greifen, mit ihrem wie auch immer gearteten Sinn für die "Unerträglichkeit" des positiven Rechts noch etwas ausrichten, wenn der Staat in die Hand von Verbrechern geraten ist – regte beispielsweise den Widerspruch des liberalen Staatsrechtslehrers Willibalt Apelt an:
"Die sittlichen Grundsätze, die eine staatliche Organisation und alle ihre Machtäußerungen erfüllen, inhaltlich festzulegen und über ihre Einhaltung zu wachen, auch bei der positiven Gesetzgebung, das eben ist die Aufgabe des Volkes, das diese Gesetzgebung entweder selbst ausübt oder durch seinen von ihm kontrollierten Repräsentanten ausüben läßt. Versagt das Volk, so wird auch jede Instanz versagen, die eine Verfassung organisieren kann, denn jedes Volk hat letzten Endes die Gesetze, die es verdient."
Eigentlich sollte jeder, der die "Radbruch'sche" Formel kennt, auch die Willibalt-Apelt’sche Formel kennen. Die Gewichte zwischen einem überaus starken Rechtsstaats- und einem etwas mageren Demokratieprinzip wurden schon 1945/46 austariert, Monate und Jahre, bevor das Grundgesetz die Republik in die Hände der Richterschaft legte.
Martin Rath, Juristen in der Nachkriegszeit: . In: Legal Tribune Online, 20.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17919 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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