Zum Auftakt des regierungsamtlichen Dichter-Jahres: Hein­rich von Kleist, juris­tisch bedingt taug­lich

von Martin Rath

04.03.2011

Für Rechtserkenntnisse ist das Werk Heinrich von Kleists nur begrenzt zu gebrauchen. Das juristisch vielleicht einschneidenste Manöver in seinem Leben fand nach seinem Tod statt: der Obduktionsbericht wurde, vielleicht aus juristischen Motiven, ein bisschen zurechtgebogen. Juristen scheinen von Kleist aber sprachlich gelernt zu haben. Eine Annäherung von Martin Rath.

Wegen seines skandalösen Endes hätte sich die preußische Gesellschaft dem Andenken an ihren schwierigen Dichter wenige Jahrzehnte zuvor noch recht archaisch durch mittelalterlich anmutende Rituale entledigen können und das wäre vielleicht der Stoff für ein Drama gewesen – wie geschaffen für den Schriftsteller und Journalisten, dem "Sex & Crime" der Boulevard-Themen zu Lebzeiten alles andere als fremd waren.

Am Ufer des Kleinen Wannsees erschoss Heinrich von Kleist zunächst seine Begleiterin, Henriette Vogel, dann sich selbst. Zum Tatzeitpunkt, dem 21. November 1811, war Kleist 34, Vogel 31 Jahre alt. Seit 1794 galt das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR), das in § 803 II 20 vorsah:

"Selbsmörder sollen zwar nach ihrem Tode nicht beschimpft werden; aber doch alles dessen, womit sonst das Absterben und Andenken andrer Leute von ihrem Stande oder Range geehrt zu werden pflegt, verlustig seyn."

Als Reserveoffizier der königlichen Garde war Kleist mit dem amtierenden König persönlich bekannt. Sein engster Freund, Ernst von Pfuel, sollte im Revolutionsjahr 1848 für einige Wochen Ministerpräsident Preußens werden. Das gewaltsame Ende des noch jungen Dichters und seiner Begleiterin hatte also nicht nur im überschaubaren Zirkel Berliner Intellektueller das Zeug zum Skandal.

Selbstmörder unter dem nächstgelegenen Galgen oder einer belebten Straßenkreuzung zu begraben, waren Rituale, die im aufgeklärten Europa nur allmählich aus der Übung kamen. Das gerade 17 Jahre alte Gesetz trug also dazu bei, den Skandal des Dichtersuizids kleinzuhalten. Ein Übriges tat der offizielle Obduktionsbericht, der für Kleist abnormale Gehirn- und Leberbefunde festhielt, was als Beleg für melancholisch-unausgeglichene "Säfte" gewertet wurde. In den ersten Obduktionsbefunden soll davon noch nicht die Rede gewesen sein.

Presserechtliche Willkür gegen den Boulevardjournalisten Kleist

Berlin und Brandenburg werden in den kommenden Monaten die wesentlichen Austragungsorte für Feierlichkeiten zum 200. Todestag Heinrich von Kleists bilden. Ob sich die Polizeibehörden seiner besonders annehmen werden, ist nicht bekannt. Umgekehrt lässt sich das schon eher behaupten: Acht Monate lang, bis Ende März 1811, versuchte sich Kleist mit seinen "Berliner Abendblättern" in der preußischen Hauptstadt als Journalist. Zu den Pflichtlektüren heutiger Germanisten gehören einige seiner Feuilletons aus dieser Zeit, etwa der berühmte Beitrag "Über das Marionettentheater".

Wirtschaftlich wichtiger waren jedoch die Nachrichten, die der Polizeipräsident von Berlin dem journalistischen Entrepreneur exklusiv überließ. Kaum anders als heute, las das Publikum mit großem Interesse von Brandschäden, Unfallberichte und kleinkriminelle Räuberpistolen. Sie füllten einen Gutteil der nur vierseitigen Zeitung. Anstoß erregten – Preußen stand unter französischer Aufsicht – politische Beiträge des später geadelten Adam Müller. Dazu genügte schon angedeutete Kritik am franzöischen Kaiser und seiner Politik. Ob der König höchstselbst oder – wahrscheinlicher – nur der Polizeipräsident verschnupft reagierten, weiß man nicht, jedenfalls wurden die Polizeiberichte den "Abendblättern" entzogen. Ihre Auflage ging danach merklich zurück, schließlich scheiterten sie wirtschaftlich. Presserechtlicher Schutz vor Behördenwillkür und damit wirtschaftlicher Bestandsschutz für Medienunternehmer sollte für rund 150 Jahre Zukunftsmusik bleiben

Allzu freizügig waren die Ausflüge Müllers dabei gar nicht einmal gewesen, denn Vorzensur und das Gebot, sich in "Staatsangelegenheiten" grundsätzlich nur zwischen den Zeilen zu äußern, waren für den Redakteur Kleist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Dass er seiner Erzähllust mit boulevardjournalistischen Stücken freien Lauf ließ, erklärt sich also aus dem Fehlen presserechtlicher Freiheiten. Für heutige Zunftvertreter lässt sich wohl das Gegenteil sagen.

Holland als schlechteres Preußen?

Viel bekannter als die journalistische Arbeit Heinrich von Kleists samt ihrer Abhängigkeit von der Willkür einer Polizeibehörde ist seine literarische Auseinandersetzung mit der Willkür eines Richters: Im "Zerbrochenen Krug"verhandelt Dorfrichter Adam eine Sachbeschädigung, die er selbst begangen hat. Weil auch sexuelles Fehlverhalten naheliegt, muss sich der Richter winden. Dass versuchte Rechtsbeugung statt schlichter Vertuschung auf die Bühne gebracht wird, ist der Anwesenheit des vorgesetzten Richters Walter zu verdanken, der auf Inspektionsreisen durch die Dörfer Hollands ist – dem fiktiven Ort der Handlung. Komödiantische Energie schöpft das Stück natürlich aus der Konfusion des Dorfrichters, der Täter und Ermittler in einer Person ist. Als versierter Theaterautor gibt Kleist seinem Dorfjuristen aber auch eine drastisch-burleske Sprache. Adam flucht.

Nicht nur der virtuelle Handlungsort, auch seine Sprache könnten dem "Zerbrochenen Krug" im Weg gestanden haben, als Kritik an der preußisch-deutschen Justiz zu Kleists Zeiten und darüber hinaus verstanden zu werden.

Korruption und juristische Interessenskonflikte auf dem Land dürften in Preußen, das dem Stereotyp nach ja als unbestechliche Staatsmaschine gilt, nicht selten gewesen sein, hatten bis 1848 die Gutsherren die lokale Gerichtsbarkeit und noch bis 1872 die Polizeigewalt inne. Dass deutsche Richter in ihren Gerichtssälen bis in die 1960er-Jahre eine mitunter drastische Sprache pflegten, daran hat das Stück nichts geändert. Man wird das wohl nicht auf sich bezogen haben.

Eine zeitgemäße Justizkritik dürfte das Theater heute kaum noch aus dem Stück herausarbeiten können, es sei denn man brächte es verstärkt auf Chinesisch, Arabisch oder in afrikanischen Sprachen auf die Bühne. Die Konfusion eines von Staats wegen tätigen Ermittlungsbeamten, der zugleich der zu verfolgende Täter ist, hat der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton 1908 in seinem Roman "Der Mann, der Donnerstag war" aufgenommen: Hier fallen Terrorist und Terrorbekämpfer zusammen. Das Motiv scheint heute vertrauter als der sexuell motivierte, rechtsbeugende Dorfrichter.

Mehrfach unzeitgemäßer Stoff: "Michael Kohlhaas"

In früheren, literatur- und theaterbegeisterten Zeiten hat es der Name "Michael Kohlhaas" zum sprichwörtlichen Ausdruck für Fälle von moralischem Rigorismus oder einfachem Querulantentum gebracht. Ob Kleist seiner Figur "Kohlhaas" neben der Sprichworttauglichkeit auch einen juristischen Nährwert eingehaucht hat, darf bezweifelt werden.

Im brandenburgischen Cölln lebte im 16. Jahrhundert ein Kaufmann namens Hans Kohlhase, die Schreibweisen gehen auseinander, dem ein sächsischer Landedelmann mehrere Pferde als Pfand für eine obskure Forderung fortnimmt. Worunter zunächst die Pferde leiden mussten, dann der Landfriede. Wirtschaftlich ruiniert, erfolglos in Gerichtsprozessen hatte der historische Kohlhase nämlich den ungerechten Sachsen 1534 die Fehde erklärt, was schon fragwürdig war, weil hier ein "Bürgerlicher" gegen einen "Adeligen" vorging – ganz abgesehen davon, dass die Fehde als Mittel der Rechtsdurchsetzung im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation schon 1495 für unzulässig erklärt wurde, unabhängig vom blauen Blut der Beteiligten.

Terrorist aus moralischem Antrieb

Kleist macht aus dem historischen Fehdefall die Geschichte eines Terroristen aus moralischem Antrieb. Auch seinem "Michael Kohlhaas" werden vom sächsischen Grenzwächter adeligen Geblüts einige Pferde genommen, beschlagnahmt wegen einer bürokratischen Willkür, zerschunden in der ritterlichen Landwirtschaft. Frau Kohlhaas fällt, bei Kleist, einem Betriebsunfall der Gerichtsbehörde zum Opfer – ein Büttel stößt sie tödlich mit der Lanze.

Der historische wie der literarische Kohlhaas/Kohlhase brennen im Verlauf ihrer Fehde Häuser nieder und nehmen allerlei Wertgegenstände sächsischer Untertanen in Beschlag. Wie weit das Raub war oder ob diese Güter als Pfand für die Forderung auf Entschädigung wegen der Pferdesache zu treuen Händen eingezogen wurden, das lässt sich wohl nicht mit letzter Sicherheit feststellen.

Der reale Hans Kohlhase wurde jedenfalls 1540 wegen Landfriedensbruchs zum Tod verurteilt und in Berlin gerädert, Kleists Kohlhaas erlebt zwar noch die Naturalrestitution seiner Pferde – sie werden wieder aufgepäppelt – wird aber wegen seiner Verbrechen mit dem Schwert hingerichtet.

Kurz vor der Hinrichtung werden die bald frischgebackenen Waisenkinder Kohlhaases vom Kurfürsten in den Adelsstand erhoben und vor alledem hat sich der bekannte Doktor Martin Luther ausgiebigst als Vermittler betätigt, doch nicht nur diese rührseligen Seiten machen Kleists Bearbeitung des Stoffs eher noch unzugänglicher für eine juristische Analyse als das historische Original: Luther hat tatsächlich seine Rolle in dem Stück gespielt. Dass auch der Kaiser in Wien eingeschaltet wurde, war wohl viel zu dick aufgetragen.

Interessant ist an den Vorgängen, real wie fiktiv, dass Kohlhase/Kohlhaas nach gewissen Regeln der Selbsthilfe gehandelt haben soll. Die Fehde diente, dem "moralischen" Anspruch nach, nicht dazu, die Forderung nach Schadensersatz unmittelbar zu befriedigen. Güter des Gegners wurden nicht geraubt, also angeeignet, sondern im Idealfall einem Treuhänder anheim gegeben. Ob die Forderung, die der Fehde zugrunde lag, berechtigt war, darüber soll im Idealfall ein objektiver Dritter entscheiden.

Kohlhaas oder und Sprachübung mit Eisenbahn

Im Jahr 2010 war der "Kohlhaas" in Baden-Württemberg Gegenstand des Abiturs, was nicht nur deshalb wundert, weil die Novelle ja auch ein Stück preußischer Propagandaliteratur gegen Korruption und Rechtlosigkeit in anderen deutschen Territorien ist.

Diese Abiturlektüre wundert auch, weil es neben der Fehde ein verwandtes Rechtsinstitut aus feudalen Zeiten gibt, das neuerdings zumindest rhetorisch wiederbelebt wird: das Widerstandsrecht. Widerstand, zum Beispiel gegen ein Bauvorhaben wie "Stuttgart 21" ist – wie der Sozialphilosoph und Jurist Niklas Luhmann 1984 darlegte – eine triviale Sache, die entweder zu einer Machtverschiebung im politischen System führt oder nicht. Was zwar Konsequenzen für die Gesetzgebung haben kann, aber nicht dazu führt, dass die Widerstand Leistenden kraft eigener Macht Recht setzen.

Sollte ausgerechnet das baden-württembergische Kultusministerium mit der verordneten Kleist-Lektüre die Idee verbreitet haben, dass durch die – mehr oder weniger gewaltsame – Aktivität Einzelner ein anerkennungsfähiger neuer Rechtszustand erzeugt werden könnte? Näher dürfte es liegen, dass man die südwestdeutschen Abiturienten einmal gründlich mit der wohl elaboriertesten Sprache, namentlich dem komplizierten Satzbau, welcher nach vielen Verschachtelungen seitens Kleistens erst zum Verständnis führt, vertraut machen wollte, weil diese sonst alles könnten außer Hochdeutsch.

Wenn es nur darum geht, hochdeutsche Schachtelsätze einzuüben, sollten Abiturienten dem Landfrieden zuliebe nicht mit dem Werk Heinrich von Kleists gequält werden. Hat nicht das Reichsgericht eine Würdigung des preußischen Dichters geleistet, die seine sprachliche Kunst auf höchst kuriose Weise imitierte:

"Eine Eisenbahn ist ein Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage, welche durch ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichtsmassen beziehungsweise die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist, und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der Transportbewegung benutzten Naturkräften – Dampf, Elektrizität, tierischer oder menschlicher Muskeltätigkeit, bei geneigter Ebene der Bahn auch schon durch die eigene Schwere der Transportgefäße und deren Ladung usf. – bei dem Betriebe des Unternehmens auf derselben eine verhältnismäßige gewaltige, je nach den Umständen nur bezweckterweise nützliche oder auch Menschenleben vernichtende und menschliche Gesundheit verletzende Wirkung zu erzeugen fähig ist."

Die deutsche Kulturszene und -politik pflegt im Jahr 2011 das Andenken an einen unzeitgemäßen und in seinen rechtshistorischen Stoffen bedenklichen Dichter. Juristen zeigen dagegen, wie man sich auf Kleist’sche Weise "verständlich" machen kann.

Martin Rath ist freier Lektor und Journalist in Köln. Das Kleist-Jahr 2011 wird am 4. März in Frankfurt/Oder eröffnet

 

Handapparat

Heinrich von Kleist: "Sämtliche Werke und Briefe", zweibändige Ausgabe im Verlag Carl Hanser. Nicht der philologischen Weisheit letzter Schluss.

Gerhard Schulz: "Kleist", München (Beck) 2007. Die rund 600-seitige Biografie verzichtet auf angenehme Weise auf all die schlecht begründeten Spekulationen über Kleists Leben, die im laufenden Jahr vermutlich massenhaft reproduziert werden.

Niklas Luhmann: "Widerstandsrecht und politische Gewalt" in: "Zeitschrift für Rechtssoziologie" Nr. 5 (1984), S. 36-45.  Die schwer hintergehbare Apotheose des modernen Verfassungsstaats, demonstriert anhand des "Widerstandsrechts", übertragbar auf die "Fehde" im engeren Sinne.

Die Herren Reichsgerichtsräte traten 1879 in die Fußstapfen Heinrich von Kleists in: RGZ 1, 247 ff. S. 252

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Zitiervorschlag

Martin Rath, Zum Auftakt des regierungsamtlichen Dichter-Jahres: . In: Legal Tribune Online, 04.03.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2689 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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