Keine Zeit? Zwischen dringenden Terminen und dem letzten Blick ins Fristenbuch haben viele Juristen vermutlich kein Interesse daran, sich zum Jahreswechsel noch weitere Gedanken über die Fallstricke der Zeit zu machen. Dabei gibt es so schöne neue - und alte - Werke über Reisen in der Zeit, auch von und über Juristen. Martin Rath wundert sich aber, dass diese, obgleich prädestiniert, dieses Genre noch so wenig nutzen.
Über die juristisch interessanten Fragen von Zeitreisen müsste man noch im Detail sprechen. Manches will noch ausgedacht werden, so populär die Zeitreise in der Science-Fiction-Literatur auch ist: Könnte beispielsweise eine Referentin im Bundeskanzleramt, die sich ins Jahr 1961 zurückbeamt, um der Einschulung der jungen Angela Dorothea Kasner an der Polytechnischen Oberschule in Templin beizuwohnen, für diese Zeitreise ein Tagegeld nach § 6 Bundesreisekostengesetz beziehen? Wie wäre das pauschale Übernachtungsgeld von 20 Euro, § 7 Bundesreisekostengesetz, in DDR-Mark umzurechnen?
Glücklicherweise sind Fragen wie diese einstweilen gleich doppelt unmöglich. Zunächst, weil Zeitreisen nur ein Konstrukt der Science-Fiction-Literatur sind, bestenfalls ein Thema für die schrägen Köpfe der theoretischen Physik.
Im Übrigen wäre es natürlich, von Erwägungen der physikalischen Unmöglichkeit abgesehen, völlig undenkbar, dass die vorgesetzte Dienststelle unserer Bundeskanzleramtsreferentin eine Zeitreise zum ersten Schultag der späteren Bundeskanzlerin Merkel genehmigen könnte. Hatte das Kind überhaupt eine Schultüte, wenn ja, enthielt diese Süßigkeiten? Oder sah das eher ärmlich aus, damals in Templin, 16 Jahre nach Kriegsende im Ulbricht-Staat?
Zeitreise: erfolgreiche Juristen-Fantasy-Literatur
In dem Jahr, in dem die nachmalige Bundeskanzlerin eingeschult wurde, sprach übrigens ein ordentliches bayerisches Gericht den amtierenden CSU-Generalsekretär und späteren Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (1925-2012) vom Vorwurf frei, in der sogenannten Spielbankenaffäre einen fahrlässigen Meineid geleistet zu haben.
Es ging um Schmiergeldvorwürfe, mit denen die schärfste CSU-Konkurrenz, die Bayernpartei, politisch ums Leben gebracht werden sollte. Im Fall Zimmermann war nicht auszuschließen, dass eine Unterzuckerung seine Wahrheitstreue gemindert hatte. Die frühen Karrierewege des nachmaligen Verfassungsministers wären kaum erwähnenswert, käme nicht der erfolgreichste deutsche Zeitreise-Roman auf Zimmermann zu sprechen. Die nachfolgende Szene spielt in einem Münchener Rotlichtlokal, der Zeitreisende wird über das sehr populäre Waldsterben, den sauren Regen und eine Luftschutz-Verordnung des damals für Umweltschutz zuständigen Bundesinnenministers in Kenntnis gesetzt:
"… nur noch Skelette von Wäldern. Dürre Strünke erhöben sich nur noch, und etwas Unkraut am Boden. … Bald würde es", wird dem Zeitreisenden von seinem Begleiter erzählt, "überall so aussehen, wo früher Wald gewesen sei. Aber natürlich sei das keine Strafe des Himmels, vielmehr habe der Mensch, dieses Ungeziefer, selber den Essig-Regen hervorgerufen. Und er – Herr Yü-len-tzu schüttelte die Faust hinüber zu der Samthöhle, in der immer noch der meineidige Minister Ch’i Man-man saß, der aber vom Faustschütteln nichts sah, weil er gebannt einer Dame zuschaute, die eben mit dem Schnabel eines Papageien koitierte – und er gibt eine Verordnung heraus!"
Der ordentliche bayerische Richter, der den Begleiter seines Zeitreisenden so garstig und in einer diskreditierenden Szene über den Bundesinnenminister der Jahre 1982 bis 1989 schimpfen ließ, war der Romancier, Theater- und Drehbuchautor Herbert Rosendorfer (1934-2012), bis zur Beförderung ans Oberlandesgericht Naumburg Richter am Amtsgericht München.
Kritik an Bayerns Justiz vom Mandarin aus dem 10. Jahrhundert
Seine "Briefe in die chinesische Vergangenheit", in denen er Kao Tai, einen Mandarin aus dem kaiserlichen China des 10. Jahrhunderts durch Raum und Zeit ins München der frühen 1980er-Jahre reisen ließ, erreichten zu seinen Lebzeiten eine Auflage von mehr als einer Million Exemplaren ¬ mithin der wohl erfolgreichste Zeitreise- und einer der bestverkauften deutschen Fantasy-Romane.
Durch die Blume des chinesischen Zeitreisenden gesprochen erfährt auch die Münchener Justiz ihre garstige Beschreibung: "Das Zimmer, in dem Herr Richter Me-lon residiert, ist mehr als kärglich. Es riecht komisch, und die Möbel sind abgeschabt. Das Zimmer ist klein wie ein Hundezwinger, und trotzdem sitzen dort drinnen zwei Richter, die nicht anders können, als so sich gegenseitig auf die großen Füße zu treten."
Diese Methode, eine Zeit-, vor allem eine Staats- und Justizkritik von einem Reisenden aus fernen Ländern aussprechen zu lassen – und weil wir auf dem Globus inzwischen längst alle Nachbarn geworden sind, musste es bereits bei Rosendorfer ein Zeitreisender sein –, ist schon im 18. Jahrhundert von einem Richter erfunden worden: Charles de Secondat, Baron de Montesquieu (1689-1755).
Montesquieu hinterließ nicht nur staatsphilosophische Schriften, wegen derer er bis heute in Schulbüchern verstaubt. Seine "Persischen Briefe", der Vorläufer von Rosendorfers "Briefe in die chinesische Vergangenheit", dürften wesentlich populärer gewesen sein. Heute müsste Montesquieu seine Beobachtungen französischer Staats- und Justizmissstände vermutlich einem Zeitreisenden oder Außerirdischen in den Mund legen. Schon weil man vom schiitischen Persien ja keine höheren Weisheiten zu erwarten hat.
Martin Rath, "Der Temporalanwalt" u.a. : . In: Legal Tribune Online, 31.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14226 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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