2/2: "Der Temporalanwalt": Ein Zeitreisender in der Kanzlei
Zeitreisen sind populär, wie aber steht es um die anwaltliche Betreuung der Beteiligten? Um auf einen auf Probleme von Zeitreisenden spezialisierten Rechtsanwalt zu stoßen, hätte der chinesische Mandarin eine weitere, geographisch beschwerliche Reise von München ins knapp 700 Kilometer entfernte Oldenburg antreten müssen. In seinem 2014 veröffentlichten Roman "Der Temporalanwalt" erzählt Ralf Boldt die Geschichte des gewöhnlichen Feld-, Wald- und Wiesenanwalts Hans-Peter Grießau, in dessen Kanzlei eines schönen Tages ein zeitreisender Mandantsteht.
Bei diesem einen Zeitreisenden wird es nicht bleiben, auch Rechtsanwalt Grießau fährt im Verlauf des Romans um gut 20 Jahre in die Zukunft, nachdem das von ihm als Syndikusanwalt betreute Projekt, im norddeutschen Moor eine "Temporalkuppel" zur stationären Zeitreise-Veranstaltung zu errichten, sich als durchaus heikle Angelegenheit entpuppt. Zu den spezifischen Problemen des "Temporalrechts" zählen natürlich Finanzgeschäfte. Für Grießaus Mandanten ist die Versuchung groß, sich mittels Zeitreise und Geldanlagen zu bereichern.
Werden im Moor Zeitmaschinen gebaut, lebt es sich auch als Feld-, Wald- und Wiesensyndikus gefährlich. Als Mittel gegen Temporalrechtsverletzungen werden archaische Methoden jenen des Rechts vorgezogen: Der Eid aufs Unterlassen von Geldanlagen in der bereisten Vergangenheit und das Verschwindenlassen der Übeltäter sind die Mittel der Wahl. Hier klingt unter der Hand ein wenig die antiliberale Kritik am liberalen Rechtsstaat an, der die Grenzbedingungen seiner Existenz ausblende.
Trotz geeigneten Reiserechts: Juristenzeitreiseromane fehlen weiter
Vertieft werden solche Erwägungen bei Ralf Boldt allerdings nicht, was der Roman-Dynamik zugutekommt. Der Erfinder des "Temporalanwalts" ist von Haus aus Betriebswirt, sein auf das Temporalrecht spezialisierter Rechtsanwalt die Hauptfigur eines Zeitreisethrillers in der norddeutschen Moorlandschaft. Das skurrile Potenzial wird also nicht recht ausgeschöpft.
Dabei wären deutsche Juristen dazu eigentlich berufen: Die Zeitreisen, die beispielsweise in der außerordentlich populären BBC-Serie "Doctor Who" dargestellt werden, leiden unter dem Running Gag, dass die Raum-Zeit-Maschine T.A.R.D.I.S. ("Time And Relative Dimensions In Space") ihre Insassen regelmäßig an anderen Orten oder zu anderen Zeiten absetzt, als vom Reiseleiter an sich geplant und angekündigt. Das lässt sich eigentlich nur durch eine ganz unmögliche englische Justiz erklären. Nach deutschem Recht kommt § 651c Abs. 3 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch in Betracht: "Leistet der Reiseveranstalter nicht innerhalb einer vom Reisenden bestimmten angemessenen Frist Abhilfe, so kann der Reisende selbst Abhilfe schaffen und Ersatz der erforderlichen Aufwendungen verlangen."
Ein deutscher Juristenzeitreiseroman, der namentlich den britischen Zeitreisevielfliegern einmal zeigt, wie die Sache richtig gemacht wird, fehlt also auch nach Boldts "Temporalanwalt" noch. Das wird aber gewiss noch geleistet werden.
Bedingte Examensrelevanz von Zeitreiserechtsfragen
Das neumodische Abitur nach dem 12. Schuljahr und das Bedürfnis, spätestens im 22. Lebensjahr das erste Staatsexamen bestanden zu haben, stellt natürlich auch ein juristisches Feuilleton vor Zeitfragen. Beispielsweise könnten unsere blutjungen Leserinnen und Leser wissen wollen: "Temporalanwalt? – Spezialisiere ich mich vor oder nach dem Freischuss darauf?"
Hier können wir trösten: Anhand von Herbert Rosendorfers "Briefe in die chinesische Vergangenheit" lässt sich nur lernen, wie man Beleidigungen so elegant ausspricht, dass sie, erstens, nicht justitiabel sind und sie, zweitens, geschätzt 99 Prozent aller Leser gar nicht in ihrer ganzen Boshaftigkeit ins Auge springen. Den "Temporalanwalt" von Ralf Boldt kann man, weil viele kleinere und größere Zeitreiseparadoxien erzählt werden, ganz gut als Trainingsgrundlage für juristische Kausalitätskonzepte verwenden.
Literatur: Ralf Boldt: "Der Temporalanwalt", Verlag p.machinery, Murnau, 2014, 188 Seiten, ISBN 978-3957650160 – 9,90 Euro. Herbert Rosendorfer: "Briefe in die chinesische Vergangenheit", Deutscher Taschenbuch-Verlag, München, 283 Seiten, ISBN 978-3423105415 – 8,90 Euro. Montesquieu: "Persische Briefe", Reclam, Stuttgart, 1991, 384 Seiten, ISBN 978-3150020517, 9,00 Euro.
Tipp: Zur Frage, was als seriöse Literatur behandelt werden soll, ist Wolfgang Neuhaus Essay „Der ganz große Wurf“ lesenswert.
Martin Rath, "Der Temporalanwalt" u.a. : . In: Legal Tribune Online, 31.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14226 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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