Vor zehn Jahren wurde der 5. Mai zum "Welttag der Handhygiene" ausgerufen. Natürlich ist auch dies ein Datum, das zu wichtig ist, als dass es Juristen allein Menschen in medizinischen Berufen überlassen könnten.
Dass kleine Unterlassungen dramatische Wirkungen nach sich ziehen können, wird Kindern in bildungsbürgerlichen Haushalten – jedenfalls solchen, die sich einen subtilen Zugang zur Schwarzen Pädagogik bewahrt haben – heute vielleicht immer noch am Beispiel des ungarisch-deutschen Mediziners Ignaz Semmelweis (1818–1863) beigebracht.
Von seinen Zunftgenossen wurde Semmelweis in den 1850er Jahren für den Beweis angefeindet, dass die Sterblichkeit junger Mütter am Kindbettfieber auf ihren Kontakt mit Ärzten zurückzuführen war, die – frisch aus dem Anatomiekurs kommend – nach ihrem Kontakt mit Leichen nicht die Hände wuschen und auch nicht einsehen wollten, dass ich durch das Händewaschen mit einem Desinfektionsmittel die Todeszahl drastisch senken ließ. Die berufsständische Ignoranz verfolgte den klugen Kopf bis in den frühen Tod, gefolgt von fortgesetzter Nachlässigkeit im medizinischen Desinfektionswesen.
Händewaschen? Und wer bezahlt mir das?
Die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) begeht seit 2009 den sogenannten "Welttag der Handhygiene". Sie suchte sich den 5. Mai nicht beliebig aus. Vielmehr soll die doppelte "5" des Datums an die fünf Finger der menschlichen Hand erinnern – und solange sich Schreiner und Zimmerleute, also Handwerker mit unterdurchschnittlicher Fingerzahl, nicht über ihre symbolpolitische Diskriminierung beschweren, wird die WHO diesen Welttag wohl noch eine Weile begehen dürfen – und müssen.
Denn nicht zuletzt dort, wo es verstärkt darauf ankäme, scheint jegliche Pädagogik erstaunlich wenig zu fruchten – also dort, wo letztlich Juristen über das Händewaschen von Menschen sogar in medizinischen Berufen zu entscheiden haben. Hierzu fallen in den vergangenen Jahren vor allem zwei Problemkreise auf.
Problemkreis 1 betrifft Fälle, in denen die Pflicht, sich von Berufs oder Geschäfts wegen die Hände zu waschen, zum Streitgegenstand wird. Ihm lassen sich u.a. Rechtssachen zuordnen, in denen die durch des EU-Recht etablierten Regeln zur Lebensmittelhygiene auf die Lebenswirklichkeit treffen, z. B. in der Frage, ob eine Arbeitsanweisung zur Händehygiene dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats unterliegt (Arbeitsgericht Offenbach, Beschl. v. 08.06.2000, Az. 1 BV 10/99).
Potenziell schmutzige Finger müssen kein grober Regelverstoß sein
Viele Fälle betreffen jedoch, wie zu Zeiten des seligen Semelweis, die Medizin. Selbst wenn es nicht ausschließlich ums Händewaschen, sondern auch ums Anlegen der Berufskleidung ging, mutet es kurios an, wenn beispielsweise im Prozess eines Krankenpflegers zu der Frage, was als Teil der Arbeitszeit zählt, auch die 30 Sekunden für die erste "hygienische Händedesinfektion" zum Streitgegenstand werden. Streiten statt Waschen: Erst das Bundesarbeitsgericht (BAG) ordnete die 30 Sekunden in einem Urteil vom 6. September 2017 (Az. 5 AZR 382/16) der Arbeitszeit zu.
Der arbeitsrechtliche Entgelt-Streit um 30 Sekunden Händewaschzeit wirkt nicht an sich merkwürdig – immerhin hat sich das BAG z. B. schon mit der Frage befasst, ob ein Arbeitgeber die Bürde des Briefportos für den Versand eines Arbeitszeugnisses per Post zu tragen hat. Auch in kleinen Dingen gilt es also stets, robust humorfrei zu bleiben.
Ein wenig verwundern darf der Streit um 30 Sekunden Händewaschen im medizinischen Betrieb jedoch mit Blick auf den Problemkreis 2: Rechtsstreitigkeiten um die Frage, ob unterlassene Handhygiene zu negativen Konsequenzen für Patienten geführt hat.
Nicht immer werden die Hände gewaschen
Als Beispiel lässt sich hier der Prozess einer verwaisten Mutter um Schmerzensgeld und Schadensersatz anführen, die die Betreiber einer ärztlichen Gemeinschaftspraxis für den Tod ihrer Tochter verantwortlich machte. Unter anderem sei bei der Zubereitung einer Infusion, auf die womöglich die tödliche Infektion zurückzuführen war, nicht hinreichend auf die Reinigung der Hände geachtet worden.
Das Oberlandesgericht (OLG) Koblenz hatte zur Frage zu entscheiden, ob hier ein grober Hygienemangel vorlag, der eine Beweiserleichterung zu Gunsten der Kläger rechtfertigte. Gegen eine entsprechende Regelung der Beweislast sprach – in merkwürdiger Wortwahl – u.a. die Auskunft eines gutachterlich befragten Professors der Medizin:
"Wenn ich gefragt werde, ob die von mir geschürten [sic!] Hygienemängel aus medizinischer Sicht verständlich sind, so kann ich sagen, dass auch bei unseren Untersuchungen in Krankenhäusern etwa die Händehygiene nur in 40 bis 50 % der Fälle eingehalten wird, in 50 % der Fälle nicht … Das ist also menschlich verständlich, medizinisch adäquat ist es nicht. Genauso verhält es sich auch hier" - (OLG Koblenz, Urt. v. 04.12.2013, Az. 5 U 1018/13).
Im Zweifel hilft dem zu Schaden gekommenen Patienten also eher die explizit juristisch formulierte Pflicht, nicht die medizinische Indikation an sich, dass mit desinfizierten Händen zu arbeiten sei.
Gut, dass Kindergarten- und Grundschulkinder juristisch noch nicht auf der Hut sind – denn mit Ignaz Semmelweis allein wird man ihnen das Händewaschen nicht schmackhaft machen können. Zum Verstand muss stets noch eine Rechtspflicht hinzukommen.
Schmutzige Hände – ein Fall für brutale Rechtspflege
Der Kampf um saubere Hände ist also in Kindergärten und Kliniken weiter zu führen – mit dem erhobenen Zeigefinger der Weltgesundheitsorganisation zum 5. Mai und, im Schadensfall, mit juristischem Beistand.
Der Beitrag, den Juristinnen und Juristen zu sauberen Händen in der Welt leisten, indem sie Hygieneverstöße sanktionieren oder dafür sorgen, dass ärztliche Hygieneberatung von der Umsatzsteuer befreit bleibt, sollte jedoch nicht vergessen machen, dass sie einst mit dem Konzept der "sauberen Hände" selbst ein ganzes Bündel an Problemen mit sich schleppten.
Was in modernen Zeiten beispielsweise durch das sogenannte Spruchrichterprivileg, § 839 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), geregelt ist, also die Frage, wie weit ein Richter persönlich für fehlerhafte Entscheidungen zu haften hat, nahm in antiken Zeiten bekanntlich die symbolische Form der sauberen Hände an: Als die Gerichtsöffentlichkeit behauptete, er habe einen Fehler gemacht, "nahm er [Pontius Pilatus] Wasser und wusch sich die Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig […]" (Mt. 27, 24). In einer symbolpolitisch besseren Welt als der unseren müssten Richter zur Robe wohl auch Handschuhe tragen. Mehr Sinn als scheußliche Krawatten ergäbe dies allemale.
Doch nicht nur die symbolische Reinheit der eigenen Hand, inzwischen normativ sublimiert, taugt zum Rechtsproblem. Wer sich beispielsweise darüber empört, dass sich heute in Saudi-Arabien Mediziner in den Dienst einer archaischen Justiz stellen, indem beispielsweise juristisch indizierte Handamputationen nach ärztlicher Kunst durchgeführt werden, findet auch hierzulande noch in Strafrechtslehrbüchern des frühen 19. Jahrhunderts Hinweise auf das Abtrennen von normativ unreinen Fingern oder Händen.
Zwei Finger oder gleich die ganze Hand abgehackt
Die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. sah unter anderem für jene, die "meyneydig schwern" vor, dass "die zwen finger damit sie geschwornn haben abzuhawen". Wo Anfang des 19. Jahrhunderts bis dahin kein modernes, aufgeklärtes Strafgesetzbuch in Kraft gesetzt worden war, hatte der Rechtsgelehrte, nahm er die Sache ernst, zu fragen, ob die Amputation der Schwurfinger als Strafe für den Meineid durch das vor Ort verbindliche materielle Strafrecht schon verbindlich abgeschafft worden war.
Der Strafkatalog beschränkte sich bis zum Wechsel vom 18. ins 19. Jahrhundert jedoch nicht auf diese "spiegelbildliche" Amputation der Schwurhand in Meineidfällen.
Das Abhacken der als "unrein" definierten Hand ist beispielsweise auch für das weniger bekannte Justizopfer im Fall des sogenannten "letzten Hexenprozesses" in Europa überliefert: Bevor am 13. Juni 1782 im schweizerischen Glarus die angebliche Giftmörderin Anna Göldi hingerichtet wurde, nahm sich ihr vermeintlicher Mittäter Rudolf "Ruedi" Steinmüller aus Verzweiflung das Leben – seinem Leichnam wurde, "was dem Lebendigen zugedacht war, die rechte Hand abgehauen und an den Galgen genagelt".
Die durch eine Straftat – nicht nur spiegelbildlich die Finger, wie beim Meineid – abzutrennen, wurde also noch im modernen Europa praktiziert. Wann diese brutale Praxis symbolischer Reinigung vor Ort jeweils ein Ende nahm, ist nicht leicht zu ermitteln. Zu rosig sollte man es aber nicht vorstellen – in Preußen wurden bekanntlich 1841 noch Leichen aufs Rad geflochten, als zwischen Nürnberg und Fürth schon längst die erste Eisenbahn fuhr – und kaum, dass das archaische Abhacken der "unreinen" Hand in Mitteleuropa beendet war, führte es Leopold II. (1835–1909), Fürst des seinerzeit ultramodernen liberalen Belgien und "Eigentümer" des sogenannten Kongo-Freistaats in den 1890er Jahren in seiner Privatkolonie wieder ein, dieses Mal als Sanktion wegen nicht an ihn entrichteter Steuern.
Der "Welttag der Handhygiene" ist also vielleicht ein Anlass, sich bei der Frage, wie sicher der zivilisatorische Fortschritt ist, einmal an die eigene Nase zu fassen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Welttag der Handhygiene: . In: Legal Tribune Online, 05.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35195 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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