Weltalphabetisierungstag: Gerichte zum Lesen und Sch­reiben

von Martin Rath

08.09.2019

Nicht lesen zu können, ist persönlich meist mit Scham verbunden und verschließt in der Gesellschaft viele Türen. Dabei war Analphabetismus noch vor wenigen Jahrzehnten in Europa weit verbreitet – und auch die Gerichte beschäftigt er.

Im UN-Kalender ist der 8. September dem Anliegen der Alphabetisierung gewidmet. In den Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften wird das Unvermögen in Sachen Lesen und Schreiben heute nicht selten in die Nähe von Devianz gerückt.

Den Anfang soll hier daher ausnahmsweise ein Fall machen, der tatsächlich kaum geeignet ist, eine Lanze für betroffene Menschen zu brechen. Denn er erzählt von keiner Erfolgsgeschichte:

Seit September 1998 hatte die klagende Frau Arbeitslosenhilfe bezogen, die – wie das heutige Arbeitslosengeld II – von einer Bedürftigkeitsprüfung abhängig war.

Fünf Jahre später verlangte die Behörde einen Gutteil der Leistungen zurück, da sich nach Datenaustausch mit dem Finanzamt herausgestellt hatte, dass die Frau und ihr inzwischen verstorbener Gatte ein Sparvermögen von umgerechnet mindestens 40.000 Euro zurückgelegt hatten.

Gegen die Rückforderung versuchte sie sich mit dem Argument zur Wehr zu setzen, sie habe sich als Analphabetin a) darauf verlassen, dass ihr Gatte die finanziellen Dinge regele und die Antragsunterlagen daher blind unterschrieben und b) den behördlichen Merkblättern nicht entnehmen können, dass auch Vermögen in ihrer gemeinsamen Heimat, der Türkei, bei der Bedürftigkeitsprüfung anzugeben sei.

Vom Hessischen Landessozialgericht musste sie sich nicht nur über den Widerspruch zwischen diesen Argumenten belehren lassen. Das Gericht klärte sie auch darüber auf, dass es im Fall der Leseuntüchtigkeit an ihr gewesen sei, entsprechende Hilfe zu suchen, um richtige Angaben machen zu können (LSG Hessen, Urt. v. 21.10.2011, Az. L 7 AL 101/11).

Lese- und Schreibuntüchtigkeit war sehr weit verbreitet

In dem Fall scheinen sich die schlimmsten Klischees zu bewahrheiten: Eine ältere Frau türkischer Herkunft schützt im Glauben, Sozialleistungen behalten zu dürfen, Lese- und Schreibuntüchtigkeit vor oder ist wirklich Analphabetin – es fehlt nicht viel, und  der Berliner Universalgelehrte Dr. Thilo Sarrazin wünscht eine Blutprobe, um zu prüfen, ob das erblich sein könnte.

Bei Licht betrachtet sind aber die Probleme mit dem Lesen und Schreiben vielfältiger, als man denkt – und auch ihre juristische Seite ist alles andere als einseitig.

Ein Blick ins historische Bilderbuch: Als Konrad Adenauer (1876–1967) im März 1957 zur Unterzeichnung der Römischen Verträge nach Italien reiste, ein Land, mit dem die Bundesrepublik zwei Jahre zuvor ein Abkommen zur Anwerbung von Arbeitskräften geschlossen hatte, galten rund 13 Prozent der italienischen Bevölkerung als Analphabeten, weiteren 18 Prozent genügte es, so ein zeitgenössischer Bericht, den eigenen Namen schreiben zu können. In Portugal war in den 1940er Jahren noch die Hälfte der Bevölkerung lese- und schreibunkundig. Als das Land 1986 den Europäischen Gemeinschaften beitrat, lagen die Verhältnisse etwa auf dem Niveau Italiens, 30 Jahre zuvor.

Doch nicht nur im katholischen oder muslimischen Süden war die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben lange überraschend wenig verbreitet. 1917, dem Jahr, in dem Adenauer zum Oberbürgermeister von Köln gewählt wurde und Finnland seine Unabhängigkeit erklärte, waren z.B.noch rund 30 Prozent der Finnen Analphabeten.

Will man sich in der Zeitschiene noch ein wenig am Mitgründer der Bundesrepublik orientieren: Ein Jahr, bevor der spätere Bundeskanzler sein juristisches Staatsexamen abschloss, beschäftigte sich das Reichsgericht in Leipzig mit dem Testament eines Erblassers aus dem Gebiet der heutigen Stadt Essen.

Weil dieser – wie offenbar nicht wenige Preußen – nur seinen Namen zu schreiben fähig war, hätte er seinen letzten Willen nach § 113 Allgemeines Preußisches Landrecht I 12 erklären müssen: "Blinde, des Lesens und Schreibens unerfahrene, ingleichen solche Personen, welche an den Händen gelähmt, oder deren beraubt sind, können nur mündlich zum Protocolle testieren" (Urt. v. 01.10.1896, Az. IV 82/96). Ein ähnliche Lehre zog das Sozialgericht Lüneburg noch im Jahr 2007: Analphabeten habe das Amt im Zweifel anzurufen.

"Benefit of Clergy" und ethnische Flickenteppiche

Die preußische Vorschrift aus dem Jahr 1794 schlägt die Brücke zurück zu einer gesellschaftlichen Normalität breiter lese- und schreibunfähiger Bevölkerungsschichten.Das englische Recht kannte beispielsweise seit dem Mittelalter das sogenannte "Benefit of Clergy", das im Prinzip bis 1827 erhalten blieb.

Ursprünglich ein Privileg für Geistliche wurde es zunächst zur Möglichkeit jedes Angeklagten ausgeweitet, sich vor der außerordentlich hinrichtungswütigen englischen Justiz durch den Beweis der Lesekompetenz zu retten: Wer den 51. Psalm "vorlesen" konnte, mochte auf Strafmilderung rechnen. Weil das Auswendiglernen frommer Texte bis ins 19. Jahrhundert einen Gutteil der Bildung einfacher Leute ausmachte, blieb es aber dem Richter überlassen, ob er Lesekompetenz sah. Ob der Psalm auch walisisch- oder irischsprachige Taschendiebe stets davor bewahrte, vom englischen Rechtsgelehrten an den Galgen gebracht zu werden, mussalso dahinstehen.

Wie wenig der schriftliche und mündliche Gebrauch der offiziellen Nationalsprache üblich war, wird oft falsch eingeschätzt – im revolutionären Frankreich des Jahres 1790, von dem sich so viele moderne Staats- und Gesellschaftsideale ableiten, war das Französische (die langue d’oil) zum Beispiel in nur 15 von 89 Departementsgängig, zwölf der rund 28 Millionen Franzosen sprachen es nicht oder nur unzureichend.Umso mehr wurde es zwecks Beförderung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit Gewalt etabliert.

Spuren einer Politik, die seither verlangte, nationale Zugehörigkeit durch mündlichen wie schriftlichen Sprachgebrauch beweisen zu können, finden sich bis in die jüngste Vergangenheit. Das Bundessozialgericht (BSG) hatte beispielsweise mit Urteil vom 10. März 1999 (Az. B 13 RJ 65/98 R) über den Antrag einer 1915 in der heutigen Slowakei geborenen Klägerin zu befinden, die einen Antrag auf Altersruhegeld gestellt hatte.

Nach Besuch einer slowakischen Volksschule war die Krankenschwester "nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt" gewesen und 1949 nach Israel ausgewandert. In der Prüfung, ob sie dem "deutschen Kulturkreis" bzw. "Sprachkreis" zugehörig sei, legte das Gericht eine eigenartige linguistische Theorie des Bundesgerichtshofs (BGH) zugrunde: "Da jeder Sprache eine bestimmte Art, die Welt gedanklich zu erfassen, eigentümlich sei, liege in der Spracherlernung die Eingliederung in die Denkwelt der Sprache. Daher erhalte jeder, der mit der deutschen Sprache weitgehend vertraut sei und sie in seinem persönlichen Lebensbereich spreche, einen Zugang zu der durch die Sprache vermittelten Kultur."

Zu prüfen war letztlich, ob die Klägerin die Möglichkeit gehabt hatte, die deutsche Schriftsprache zu erlernen. Noch in der sozialgerichtlichen Aufbereitung der mörderischen Politik, das buntscheckige Mitteleuropa des 20. Jahrhunderts sprachlich bzw. "rassisch" zu uniformieren, blieb der Beleg schriftsprachlicher Kompetenz eine Art "Benefit".

Neuere Problemlagen: Juristen sprach- und naturwissenschaftlich orientiert?

Diese noch 1999 anerkannte linguistische Theorie von BGH und BSG ist problematisch: Wer deutsch spricht, liest und schreibt, denkt auch spezifisch deutsch? Nach dieser Logik erspüren australische Aborigines sogar am geografischen Südpol die vier Himmelsrichtungen, weil in ihren Sprachen die Wörter "rechts" und "links" fehlen, und ein neumodisches Sternchen in der Stellenausschreibung sorgt dafür, dass sich Menschen jedweder erotischer Bedürfnislage angesprochen fühlen. Zweifel an dieser Art Sprach-Steuerung sind erlaubt.

Gemessen daran bemerkenswert kleine Stücke aufs Lesen und Schreiben und den deutschen "Sprach- und Kulturkreis" zeigen neuere Entscheidungen zum Staatsangehörigkeitsrecht.

Nach § 10 Abs. 1 Nr. 6 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) muss ein einbürgerungswilliger Ausländer über ausreichende deutsche Sprachkenntnisse verfügen, sofern nicht "wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung oder altersbedingt" (Abs. 6) eine Ausnahme zu machen ist. Im Fall einer wenig sprachmächtigen, vorzeitig gealterten Frau türkischer Herkunft, zudem Analphabetin, signalisierte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit Beschluss vom 17. April 2019 der Behörde, es bei den Anforderungen an diese Ausnahme nicht zu überziehen (Az. 12 S 1501/18). Mit den älteren nationalistisch-völkischen Reinheitsgeboten oder der Idee, dass nur derjenige "zu Deutschland gehört", der deutsch liest, deutsch schreibt, deutsch denkt, ist das kaum unter einen Hut zu bringen.

Augenfällig wird jedoch, dass eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Analphabetismus selbst dann fehlt, wenn er einmal als Grundsatzfrage vorgetragen wird. Mit Beschluss vom 7. März 2013 (Az. 4 T 29/13) hielt etwa das Landgericht Kleve fest, dass Analphabetismus für sich genommen keine Beeinträchtigung sei, die die Bestellung eines Betreuers nach § 1896 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) rechtfertige.Dass diese vom Gesetzgeber getragene Einschätzung im Widerspruch zur Einordnung der Lese-Rechtschreib-Störung im Internationalen Klassifikationsschema für psychische Störungen steht,die nicht immer, aber nicht selten mit "Analphabetismus" identisch ist, thematisierte das Gericht nicht.

Angesichts von Millionen (funktionaler) Analphabeten in Deutschland und der individuellen wie kollektiven Wohlstandsverluste, die mit ihrem Unvermögen einhergehen, fragt sich, warum sich nicht eine Landtags- und Bundestagsdebatte hierzu an die nächste reiht. Vielleicht sind ihre Teilnehmer jaunabkömmlich, weil sie sich auf Maischberger, Plasberg & Co. vorbereiten müssen.

Tipp zur historischen Dimension: Robert A. Houston: "Alphabetisierung".

Zitiervorschlag

Weltalphabetisierungstag: . In: Legal Tribune Online, 08.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37493 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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