Rechtsgeschichte: Lüs­terne Blicke und dumme Gesichter vor Gericht

von Martin Rath

17.12.2023

In Gesichtern lesen können, ist eine nützliche zwischenmenschliche Fähigkeit. Problematisch wird es, wenn Gerichte glauben, anhand der Mimik Entscheidungen treffen zu können. Martin Rath wirft einen Blick zurück.

In der nackten Natur des Menschen wollte der Bundesgerichtshof (BGH) einerseits, sogar während der gesitteten 1950er Jahre, noch keine Unzucht erkennen, selbst wenn es um Aktfotografien samt aller erdenklichen sekundären Geschlechtsmerkmale ging, wie sie Anhänger der sogenannten Freikörperkultur (FKK) damals in ihren Zeitschriften zur Schau stellten. 

Andererseits, auch das ist verständlich, sollte sich die FKK-Publizistik nicht damit herausreden können, dass pornografische Abbildungen allein deshalb straflos verbreitet werden könnten, weil "der menschliche Körper naturgegeben sei". Denn dazu erklärte der BGH, dass sich "selbst von den Auswüchsen und Verirrungen des Geschlechtslebens sagen" lasse, es sei "in irgendeiner Weise 'naturgegeben'". 

Besonderes Augenmerk habe der Richter daher bei Abbildungen von Schamhaaren oder nackten Gesäßen darauf zu legen, "ob der Gesichtsausdruck der Dargestellten unbefangen oder lockend und anreizend erscheint" (BGH, Urt. v. 26.02.1954, Az. 5 StR 481/53). 

Wer der Strafe nach § 184 Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch (StGB) a.F. entgehen wollte, sollte sich auch hüten, seine Modelle mit "lüsternen Blicken" zu fotografieren (BGH, Urt. v. 30.10.1952, Az. 4 StR 683/51). 

In Tat- und Rechtsfragen oberhalb der Gürtellinie war der BGH hingegen nicht bereit, einer allzu eindeutigen Auslegung der menschlichen Mimik zu folgen. Beispielsweise hatte das Landgericht Wuppertal Vorgänge im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall als versuchten Mord qualifiziert, unter anderem weil beim Angeklagten ein "verzerrter Gesichtsausdruck" beobachtet worden war, der darauf habe schließen lassen, dass er eine Aufklärung des Unfallgeschehens "um jeden Preis zu verhindern" suche (BGH, Urt. v. 05.12.1973, Az. 3 StR 230/73). 

Unterhaltungs- und Beweiswert von Gesichtern 

Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), ein in unfassbar vielen Dingen blitzgescheiter Physiker und Schriftsteller, hinterließ zwei Aphorismen, die Richtungen auch eines juristischen Interesses am menschlichen Körper zwischen Haaransatz und Doppelkinnfalte andeuten: "Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die vom menschlichen Gesicht." Und von jemand könne gesagt werden: "Ein wahres Steckbrief-Gesicht." 

Witze soll man nicht erklären, aber weil uns heute das aufgeklärte 18. Jahrhundert etwas abhandenzukommen droht, lässt sich die Ausnahme rechtfertigen: Der Spruch von der "unterhaltendsten Fläche" ist witzig, weil Forschungsreisende wie James Cook (1728–1779) oder Louis Antoine de Bougainville (1729–1811) ihrerzeit reichhaltiges und exotisches Anschauungsmaterial aus aller Welt, gern der Südsee, nach Europa brachten, das nicht nur die Gelehrten, sondern ein breiteres Publikum faszinierte. Auch die wissenschaftliche Kartografierung der Welt machte ungeheure Fortschritte, der Globus wurde erstmals im allgemeinen Bewusstsein zu einer geschlossenen Fläche. Auf etwas Kleines wie das menschliche Gesicht zurückzukommen, lief dem Größengefühl der Epoche auf witzige Weise zuwider. 

Und auch die Beobachtung, dass jemand ein "wahres Steckbrief-Gesicht" haben könne, war angesichts der zwar nicht neuen, aber im Eifer des 18. Jahrhunderts, die Dinge zu verwissenschaftlichen, noch skurrile Erkenntnis davon, wie sehr die vermeintliche Objektivität des Vermessenen auf die dann doch bloß trivial-moralisierende Würdigung ihres Objekts zurückfallen mochte

Neue Kritik am übertriebenen Lesen von Gesichtern 

Aus den USA, also einer Republik, die nicht zuletzt in manchen rechtlichen Anliegen den Eindruck macht, im aufgeklärten 18. Jahrhundert stehengeblieben zu sein, kommt dieser Tage eine ausgereifte Kritik an der überzogenen Art, in fremden Gesichtern zu lesen – Lichtenberg, der kleinwüchsige und bucklige Physiker, hätte mit seiner Abneigung gegen das physiognomische Vermessungswesen seine Freude daran gehabt. 

Unter dem Titel "Policing Emotions: What Social Psychology Can Teach Fourth Amendment Doctrine" (Vorveröffentlichung aus der Buffalo Law Review 2024) behandelt Wayne A. Logan, Juraprofessor an der Staatsuniversität zu Florida, die strafrechtliche Verwertbarkeit insbesondere von Gesichtsausdrücken. 

Die Idee, dass sich Mimik hinreichend sicher objektiv würdigen lasse, erlebte in den USA eine Konjunktur, die sich aus mehreren, teils zusammenfließenden Quellen ergab. 

Eine Methodik, vom Gesichtsausdruck auf die emotionale oder volitive Verfasstheit eines Menschen schließen zu dürfen, wurde seit den 1970er Jahren prominent vom amerikanischen Psychologen Paul Ekman (1934–) propagiert, der sich auch damit rühmte, gewisse Grundausdrücke, nämlich Freude, Überraschung, Angst, Wut, Ekel und Traurigkeit, als anthropologische Universalien geprüft zu haben, indem er etwa die entlegenen Ethnien im Dschungel Papua-Neuguineas aufsuchte. 

Die Lehren Ekmans, obwohl sie beispielsweise in geschlechtstypischen Ausdrucksformen lückenhaft sind, teils seit geraumer Zeit wissenschaftlich ungeprüft blieben oder in begründeten Zweifel gezogen wurden, bildeten spätestens seit den 1980er Jahren auch eine verwissenschaftlichte Begründung für kommerzielle Trainingsangebote von Polizei- und Flughafensicherheitsbeamten. Wie steindumm es damit ist, wenn heutige Kritiker einer Kommerzialisierung bzw. politisierten Popularisierung von Wissenschaft glauben, in den Themen "Klima" und "COVID" etwas fundamental Neues zu entdecken, sei nur nebenbei angemerkt. 

Eine weitere Quelle der Konjunktur ergab sich aus der kulturindustriellen Verwertung von Ekmans Lehren. TV-Serien wie "Lie to Me" (2009–2011) überhöhten die Lesbarkeit von Mimik und Gestik in grotesk übermenschliche Allwissenheitsfantasien. 

Schließlich bot die Lehre von der "facial emotion recognition" (FER) einen theoretischen Überbau für die ohnehin in der Gerichtspraxis der USA weit verbreitete Wertschätzung, die dem Urteilsvermögen von Polizisten mit ihrem geschulten Blick für verdächtiges Verhalten und für einen Anfangsverdacht begründende Gesichtsausdrücke entgegengebracht wird. Das von Logan dazu angeführte juristische Fall-Gut, wenn auch nur aus den USA, ist beeindruckend. 

Logan muss zwar einräumen, dass die "korrekt positiven" Fälle, in denen nach einer Durchsuchung tatsächlich Waffen oder verbotene Suchtstoffe entdeckt wurden, statistisch kaum erfasst würden, kann aber überzeugend belegen, wie viele Tücken im Versuch liegen, das Lesen in Gesichtern zu rationalisieren. Denn über kulturelle Grenzen werden Gefühle oft falsch zugeschrieben, Furcht und Zorn bei Menschen mit dunkler von Beamten mit heller Hautfarbe beachtlich oft verwechselt – und dergleichen mehr. 

Juristische Gesichter-Lesarten aufbereiten? 

Das juristische Interesse an der unterhaltsamsten Fläche der Welt muss sich aber nicht darauf beschränken, diese populär- und parawissenschaftliche Lehre der Steckbrief-Macherei zu kritisieren. 

Sich auf Gesichtsausdrücke einen Reim machen zu können, wird von Juristen z. B. auch mit Blick auf Leichen erwartet, deren todesstarres Gesicht auf Atemnot deuten soll (BGH, Urt. v. 21.04.1953, Az. 1 StR 731/52). Richter sehen es, sogar als medizinische Laien, wenn eine "Beklagte einen etwas abartigen Eindruck" macht, weil sie "schwerhörig" ist, "merkwürdig akzentuiert" spricht und ihr "Gesichtsausdruck auffällig" ist (BGH, Urt. v. 30.10.1963, Az. IV ZR 10/63). 

Aus unzähligen dienstlichen Beobachtungen, dokumentiert in disziplinarrechtlichen Entscheidungen, oft zu einstigen Bundesbahnbeamten, in denen vom Gesichtsausdruck auf Alkoholisierung geschlossen wurde, sticht der Fall eines Beamten im Sprengel des Bundesministers der Verteidigung heraus, der unter anderem aus den unfreundlichen Gesichtern seiner Kollegen beim Kantinengang auf eine "Pogromstimmung" gegen sich schloss und dem Dienst fernblieb (Bundesverwaltungsgericht, Urt. 26.07.1984, Az. 1 D 57.83). 

Produktiver als solche eher rustikalen Sachverhalte könnte eine Beobachtung sein, die sich sowohl beim Bundesarbeitsgericht (BAG) als auch beim BGH findet: Als eine gravierende Beeinträchtigung durch Videoüberwachung sehen beide, dass "Gestik und Mimik, bewusste oder unbewusste Gebärden, der Gesichtsausdruck bei der Arbeit oder bei der Kommunikation mit Vorgesetzten" dokumentiert werde (BAG, Beschl. v. 29.06.2004, Az. 1 ABR 21/03). Diesen Einwand gegen die Dokumentation von Gesichtsbewegungen formulierte man einige Jahre zuvor schon beim BGH (Urt. v. 25.04.1995, Az. VI ZR 272/94). 

An eine Dokumentation, die gleich auch noch eine automatisierte Interpretation liefern würde, war in diesem Fällen noch nicht zu denken – das Fraunhofer-Institut popularisiert die entsprechende Technik heute regelrecht

Schauspieler, Fotomodelle und Alltagsinszenierungen 

Einem Urteil des Bundesfinanzhofs vom 8. Juni 1967 (Az. IV 62/65) entnehmen wir folgende, vom Finanzgericht getroffene Unterscheidung zwischen dem Beruf des Schauspielers und jenem des – weiblichen – Fotomodells, die uns zukunftsweisend erscheint: 

"Die Begabung, durch eine vorteilhafte Stellung, durch einnehmende Posen oder durch einen gewinnenden oder interessanten Gesichtsausdruck einschließlich der dazugehörenden Schminke, Frisur etc. ein Bekleidungsstück in der günstigsten Weise zur Geltung zu bringen und zu offerieren, gehöre nicht in das Gebiet der Kunst, wie etwa die Tätigkeit der Schauspieler oder Solotänzer. Diesen beiden Berufsarten sei die im Bereich des Künstlerischen liegende seelisch-geistige Gestaltung einer selbständigen Rolle eigen, die sie darzustellen hätten. Hieran aber fehle es bei der Tätigkeit eines Fotomodells, die neben einer geeigneten Figur die vielen Frauen eigene Gabe, durch Mimik und Gesten vor der Kamera auf das Vorteilhafteste zu posieren, erfordere." 

Die hier ungerechterweise nur auf Frauen beschränkte "Gabe, durch Mimik und Gesten vor der Kamera auf das Vorteilhafteste zu posieren", dürfte dank Smartphones und anderer Überwachungssysteme heute doch deutlich weiter zu fassen sein.

Zitiervorschlag

Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 17.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53433 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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