Veröffentlichung von Doktorarbeiten: Druck­zwang zugunsten des bis­sigen Lesers

von Hermann Horstkotte

04.05.2018

Ein doppeltes Technik-Jubiläum: Das World Wide Web ist jetzt 25 und Dissonline, das amtliche Archiv für Dissertationen im Dateiformat, 20 Jahre alt. Hermann Horstkotte zur rund hundertjährigen Entwicklung der Publikationspflicht.

Laut Empfehlung der Kultusministerkonferenz soll der Promovend seine Arbeit "in angemessener Weise der wissenschaftlichen Öffentlichkeit durch Vervielfältigung und Verbreitung zugänglich machen", mindestens mit ein paar Dutzend Druckexemplaren für den bibliothekarischen Leihverkehr oder inzwischen auch online.

Die bundesweite Richtlinie gilt noch gar nicht so lange, nämlich erst seit den 1970er Jahren. Kein Wunder deshalb, dass die Doktorarbeiten vieler heutiger Rentner in keinem Bibliothekskatalog zu finden sind. Dabei führt erst die Publikationspflicht zur "Qualitätskontrolle durch Öffentlichkeit und Fachwissenschaft", wie Ulrich Rasche von der Göttinger Akademie der Wissenschaften betont. Doch ist der Zwang  im internationalen Vergleich eher die Ausnahme und zum Beispiel in den USA, auf den britischen Inseln und bei anderen europäischen Nachbarn oft nicht vorgeschrieben. 

Schrittmacher Preußen

Auch in Deutschland wurde der Druckzwang erst nach mehreren Anläufen und keineswegs überall gleichzeitig eingeführt, wie Bibliotheksprofessor Eric Steinhauer feststellte. 1876 hatte sich der große Historiker und Jurist Theodor Mommsen öffentlich über "Pseudodoktoren" erregt, die nur für den Titel (pro gradu) und nicht für eine Lehrstuhl-Karriere (pro loco) schrieben. Ihre wertlosen und oft plagiierten Promotionschriften fielen mangels Publizitätspflicht häufig gar nicht auf.

Mommsens Kritik zeigte Wirkung: Schon ein Jahr später durfte sich in Preußen zunächst nur derjenige Dr.phil. nennen, der seine Dissertation auch gedruckt hatte. Eine preußische Tauschverordnung von 1913 setzte die Publikationspflicht dann fächerübergreifend voraus.

1920, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, wurde der Druckzwang aus Kostengründen zwar aufgehoben, aber fünf Jahre später in Preußen wieder eingeführt und im II. Weltkrieg erneut ausgesetzt. Seit Mitte der fünfziger Jahre verlangten einzelne Fakultäten wieder den Druck, hundert Jahre nach Mommsens Klage schrieben ihn auch Hochschulgesetze vor. Inzwischen ist die Veröffentlichung, ob auf Papier oder online, in allen Promotionsordnungen verankert. 

Versteckspiele in der europäischen Nachbarschaft

Wissenschaft und Forschung sind immer gewagt. Und wer das öffentliche Wagnis lieber scheut, lässt sich lieber unauffällig in einem EU-Partnerland promovieren, in dem die Veröffentlichung nicht so rigoros vorgeschrieben ist wie in Deutschland. Gleichwohl darf der Titel ohne Weiteres zum "Vornamen" Dr. eingedeutscht werden, ganz ohne besondere Kennzeichnung wie etwa einen Klammerzusatz.

Ein Beispiel für viele gibt eine süddeutsche Hochschulrektorin, die 2007 im polnischen Szczecin (vormals Stettin) ihren Doktor machte. Eine Lesernachfrage nach ihrer Dissertation verneinte sie in scheinbarem Juristendeutsch publizitätsscheu so: "Es ist leider nicht ersichtlich, aus welchem Grund Sie Ihre Anfrage stellen. Wir bitten um Verständnis, dass es hier der Darlegung eines berechtigten Interesses bedarf."
Immerhin stellte die polnische Universität mit Einzelerlaubnis des Rektors die Arbeit als PDF zur Verfügung – und verlangte dafür 20 Euro. Ähnlich umständlich ist der Zugriff an Hochschulen in Tschechien, Ungarn oder Slowenien, dort mitunter sogar von der Einwilligung des Verfassers abhängig. Da triumphiert das Urheberrecht eben über alle Ansprüche der wissenschaftlichen Community.

Alles ins Netz

Publikumsfreundlicher zeigt sich neuerdings die Slowakei. An der ältesten Universität etwa, in Bratislava, waren Dissertationen auch deutscher Autoren bis vor wenigen Jahren nur in der Präsenzbibliothek zugänglich und dort höchstens zum Teil kopierbar. Dank einer Neuregelung von 2012 ist es aber mit dem Versteckspiel vorbei: Alle seitherigen Doktorarbeiten an einer slowakischen Hochschule gibt es (auch) in  einer E-Version, die in einem zentralen Repositorium abrufbar ist. Das soll nicht zuletzt Plagiatoren abschrecken.

Befürworter der Veröffentlichungspflicht sprechen nun schnell von einem West-Ost-Gefälle in der EU, das jedoch so einfach nicht stimmt. In Österreich beispielsweise ist die "hinreichende Publizität" schon gewährleistet, wenn der Autor ein Exemplar seiner Uni und ein weiteres der Österreichischen Nationalbibliothek überlässt. Dabei hat er das Recht, "die Benützung der Exemplare für längstens fünf Jahre nach der Ablieferung auszuschließen."

Das übrigens tat etwa ein deutscher Bundestagsabgeordneter mit seiner Tiroler Doktorarbeit von 2011, bestehend aus zwei Vorveröffentlichungen mit anderen Autoren und einem Dachkapitel. Dabei spielt vermutlich ein einfacher Hintergedanke die Hauptrolle: Wer würde schon noch nach fünf Jahren nach einer verstaubten Doktorarbeit fragen wollen, wenn nicht gerade aus persönlicher Missgunst?

Vorsicht, bissiger Leser!

Der zum Zynismus neigende Philosoph Peter Sloterdijk nimmt an, dass 98 bis 99 Prozent aller Doktorarbeiten "in der wie auch immer berechtigten oder unberechtigten Erwartung des partiellen oder völligen Nichtgelesenwerdens verfasst werden".

Worauf es Autoren hauptsächlich ankomme, sei bloß der Titel. Dennoch will Besserwisser Sloterdijk an jeder Bibliothekstür ein Warnschild anbringen: Vorsicht, bissiger Leser! Der Publizitätszwang ist dafür das A und O.

Zitiervorschlag

Hermann Horstkotte, Veröffentlichung von Doktorarbeiten: . In: Legal Tribune Online, 04.05.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/28463 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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