Zwischen den 1880er und 1920er Jahren sah sich das Zweiparteiensystem der USA von Anarchisten, Sozialisten und anderen Exzentrikern bedroht. Mit den juristischen Kämpfen des Abgeordneten Victor L. Berger nahm das ein schmähliches Ende.
Am 10. November 1919 verweigerte das US-Repräsentantenhaus dem sozialistischen Politiker und Journalisten Victor L. Berger (1860–1929) nach einem erschöpfenden Prüfungsprozess und mit erdrückender Mehrheit das Recht, seinen Sitz im Parlament einzunehmen.
Die Abgeordneten begründeten dies damit, dass die publizistische Tätigkeit Bergers den Interessen der USA im Ersten Weltkrieg nachteilig, unpatriotisch und nachgerade verräterisch gewesen sei. Seine Socialist Party of America hatte sich gegen den Eintritt der USA in diesen Krieg gewendet – und zwar in jener martialischen Rhetorik, in der selbst spießigste Sozialdemokraten seinerzeit gegen den Militarismus oder gegen die besitzenden Klassen polemisierten.
Neben dem Prozess vor einem eigens für ihn eingesetzten Sonderausschuss war Berger an einem der großen politischen Strafverfahren zur Loyalität von Amerikanern mit sozialistischen Ideen beteiligt.
Damit nicht genug: Auch das stolze Erbe einer eigensinnigen politischen Organisation von Amerikanern deutscher Herkunft ging seinerzeit in der fremdenfeindlichen Hysterie verloren, die nicht zuletzt in Berger ihre Inkarnation fand.
Abgeordnetenloyalität als Verfassungsschutzmodus
Was ist schlimmer: Sozialismus oder Vielweiberei? – Unter anderem mit dieser Frage hatte sich der neunköpfige Sonderausschuss des US-Repräsentantenhauses seit dem 11. Juni 1919 zu befassen.
Das Gremium unter Leitung des Abgeordneten Frederick W. Dallinger (1871–1955), eines später zum Richter des U.S. Customs Court berufenen Harvard-Absolventen, betrat hier juristisches Neuland.
Am 8. Januar 1919 war Berger, der dem US-Repräsentantenhaus bereits zwischen 1911 und 1913 angehört hatte, neben drei weiteren sozialistischen Parteigängern vom Bundesbezirksgericht in Chicago zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt worden, weil er durch seine publizistische Tätigkeit gegen den 1917 in Kraft getretenen Espionage Act verstoßen habe.
Dieses Urteil sollte zwar nie Rechtskraft erlangen: Der U.S. Supreme Court stellte am 31. Januar 1921 fest, dass der Richter in Chicago – ein nachhaltig bekannter Jurist mit dem pompösen Namen Kenesaw Mountain Landis (1866–1944) und einer entsprechend ausgeprägten Neigung zur Theatralik – in seiner doch etwas überschäumenden Verachtung gegenüber den Angeklagten formal nicht sauber mit den daraus resultierenden Befangenheitsanträgen verfahren war.
Als sich Berger am 9. Mai 1919 beim Präsidium des US-Repräsentantenhauses vorstellte, um mit dem Eid in seine Rechte eingeführt zu werden, widersprach der Abgeordnete Dallinger, ungeachtet der Rechtshängigkeit des Strafverfahrens. Der von ihm geleitete Ausschuss zum Recht Bergers, vereidigt zu werden, wurde im Anschluss per Resolution eingesetzt.
Die in zwei Bänden vorliegenden Anhörungsprotokolle, insgesamt knapp 1.800 Druckseiten, sind ein recht beeindruckendes Zeugnis für eine im Parteibetrieb verhandelte Verfassungsfrage zu den Grenzen demokratischer Repräsentation und "objektiver Wertordnung" – und damit auch ein Dokument selbstbewussten Parlamentarismus. Die klassische deutsche Politikerphrase: "Damit gehe ich nach Karlsruhe!", schmerzt nach der Lektüre noch etwas mehr als ohnehin.
Publizistischer Verrat im gerichtlichen Schwebezustand
Der Ausschuss unter Vorsitz des Abgeordneten Dallinger betrat juristisches Neuland insoweit, als die Verfassung der USA zwar zwei Vorschriften zum Ausschluss von Mitgliedern des Senats bzw. Repräsentantenhauses kennt, beide jedoch nicht recht auf einen Fall passen mochten, in dem ein gewählter Volksvertreter beschuldigt wurde, einen rechtskräftig noch nicht abgeurteilten publizistischen Verrat begangen zu haben.
Nach Artikel 1 Abschnitt 5 Absatz 2 US-Verfassung kann ein Senator bzw. Repräsentant jeweils von seiner Kammer mit Zweidrittel-Mehrheit wegen ordnungswidrigem Verhalten ausgeschlossen werden.
Von dieser Vorschrift wird hergebracht und bis heute Gebrauch gemacht, wenn ein Parlamentsmitglied wegen einer erheblichen, jedoch konventionellen Straftat verurteilt wurde – in der Regel aber erst, nachdem es seinen Sitz einnehmen konnte.
Bereits die Vereidigung zu verweigern, war ohne Vorbild. Am nächsten kam dem Fall Berger hier noch die Sache des mormonischen Kirchenführers Brigham Henry Roberts (1857–1933), der in Utah zwar gewählt worden war, dem das Repräsentantenhaus jedoch den Sitz verweigerte, weil er in bundesgesetzlich verbotener Mehrehe lebte. Immerhin war Roberts, wie Bergers Anwalt Henry F. Cochems (1875–1921) vortrug, eine Stellungnahme gegenüber der tagenden Kongress-Kammer erlaubt worden.
Die andere Vorschrift war deutlich heikler. Nach dem 1868 ratifizierten 14. Zusatzartikel Abschnitt 3 US-Verfassung werden Personen, die "an einem Aufstand oder Aufruhr" gegen die USA teilgenommen "oder ihre Feinde unterstützt oder begünstigt" haben, für unfähig erklärt, ein Bundes- oder Staatsamt zu bekleiden, sofern der Kongress dieses Verdikt nicht mit Zweidrittel-Mehrheit aufhebt.
Dass die Norm keine Anwendung mehr finden sollte, hatte der Kongress 1898 im Rahmen der allgemeinen geschichts- und 'rassen'-politischen Rehabilitation der 1863 abtrünnigen Südstaaten beschlossen.
Dies war ein umfassendes Anliegen gewesen – eine Art identitätspolitisches Integrationsangebot an die 'weißen', "angelsächsischen" Protestanten: Die bis in die späten 1960er Jahre geltenden "Jim Crow"-Apartheitsgesetze – das Verbot "gemischtrassiger" Ehen, getrennte Schulen, Diskriminierung von Afroamerikanern bei Wahlen – entstanden ebenso in dieser Zeit wie die zahllosen Denkmale für verräterische Südstaaten-Offiziere.
Um diese auf abtrünnige Südstaatler gemünzte Vorschrift nun auf die vergleichsweise neue Konkurrenz von Sozialisten – Anarchisten, Syndikalisten, Kommunisten, wer sollte da noch durchblicken? – anwenden zu können, bedurfte es eines Feindbilds, das stark genug sein musste, um davon abzulenken, dass man eigentlich von den innenpolitischen Feinderklärungen wieder etwas Abstand hatte nehmen wollen.
Wie lockt man einen Sozialdemokraten rhetorisch in die Falle?
Im Fall Victor L. Bergers erleichterte die pazifistische Rhetorik der überdies von der deutschen Sozialdemokratie dominierten internationalen Arbeiterbewegung den Kampf gegen den innenpolitischen Konkurrenten als vermeintlichen Anhänger feindlicher Interessen.
Der Ausschuss zog umfangreich die Beweismittel aus dem Prozess heran, der gegen Berger und Genossen in Chicago wegen des Vorwurfs geführt worden war, publizistisch die Wehrkraft der amerikanischen Streitkräfte untergraben zu haben (Abschnitt 2 Espionage Act von 1917).
Angesichts von verbalheldischen Beschlüssen der Socialist Party of America, sich "mit allen Mitteln" gegen den Kriegseintritt der USA zur Wehr zu setzen und allfälliger publizistischer Bekundungen, dass der Krieg allein dazu diene, die Interessen der Kapitalisten zu bedienen, fand sich hierzu ohne weiteres reichhaltiges Material.
Die Kommission verhandelte es ausführlich.
Konnte sich Berger etwa auf einen generell pazifistischen Charakter seiner Bewegung berufen, obwohl die SPD-Reichstagsfraktion 1914 den Kriegskrediten mehrheitlich zugestimmt hatte – bevor oder nachdem "russische Kosaken" in deutsches Gebiet einmarschiert waren? Bevor oder nachdem deutsche Truppen die belgische Neutralität verletzt hatten? Durfte ein wahrer Amerikaner an seiner Regierung zweifeln, während deutsche U-Boote britische Schiffe mit US-Mitbürgern versenkten?
Berger antwortete hierzu etwa: "Ich weiß nicht, wie viele Menschen auf amerikanischen Schiffen verloren gegangen sind. Der U-Boot-Krieg richtete sich jedoch gegen die Alliierten, und es gab nicht viele amerikanische Todesopfer. Ich kann nicht sehen, dass wir etwas für diese wenigen Menschen erreicht haben, deren Leben bedauerlicherweise auf hoher See verloren ging, durch den Tod von 80.000 weiteren Amerikanern und Verstümmelungen – also etwa 180.000 mehr."
Nicht selten gelang es den Kommissionsmitgliedern die weitgehende Deckungsgleichheit von Bergers Argumenten gegen den Kriegseintritt mit Positionen des deutschen Feindes herzustellen – etwa in der Rechtfertigung des U-Bootkrieges –, während es ihm doch nur darum ging, klarzustellen: "And I want you to understand that I am against the whole bloody business."
Gut zu dämonisieren: Sauerkraut essende Nonkonformisten
Berger sah sich sogar genötigt zu belegen, dass die komplette sozialistische Publizistik keinerlei Einfluss auf das Rekrutierungsverhalten oder die Bereitschaft von Soldaten hatte, aus dem Dienst zu fliehen – noch nicht einmal höchstselbst in seinem Wahlkreis in Milwaukee.
Dass insoweit überhaupt die klägliche amerikanische Sozialdemokratie pönalisiert wurde und nicht etwa Vertreter des christlichen Pazifismus der doch recht betschwesterlichen USA, war auf die untypische Stärke der Sozialisten in den von deutschen Einwanderern dominierten Staaten im mittleren Westen zurückzuführen.
Hatten liberale deutsche Revolutionäre wie Carl Schurz (1829–1906) unter diesen noch für die Sache des Republikaners Abraham Lincoln geworben – wie es sich für eine Parallelgesellschaft gehört: natürlich in deutscher Sprache – ließ sich nun eine fehlende Integrationsbereitschaft der Amerikaner deutscher Herkunft in den Verdacht ummünzen, sie huldigten unamerikanischen Weltanschauungen, stets jedenfalls an der Grenze zum offenen Verrat.
Die Stimmberechtigten in Milwaukee wehrten sich dagegen zwar noch, indem sie Berger wiederholt wählten – 1923 bis 1929 konnte er sein Mandat nach dem Freispruch im gerichtlichen Verratsprozess sogar ausüben. Die politische Klugheitsregel, dass sich Zuwanderer mit schwerem europäischem Akzent vorzugsweise bei Demokraten oder Republikanern engagieren sollten, war jedoch erfolgreich etabliert.
Zum Weiterlesen: Eine eher apologetische Darstellung (1964) bietet Edward J. Muziks (1922–2019) "Victor Berger: Congress and the Red Scare". Sally M. Miller (1937–) setzte sich 1971 unter dem Titel "The Socialist Party and the Negro, 1901–20" differenziert mit Bergers Rassismus auseinander.
Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.
Parlamentarismus: . In: Legal Tribune Online, 10.11.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38619 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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