Schwer überwindbare Unzulänglichkeiten: Vom Unbe­hagen im Recht

von Martin Rath

05.11.2023

Soziologen entdecken es in der Gesellschaft der Gegenwart, Philosophen sahen in ihm den wesentlichen Antrieb menschlicher Geistestätigkeit – das Unbehagen. Und die juristische Argumentation wird unbehaglich, wenn sie nicht mehr weiterweiß.

Wenn das Gemüt ein wenig drückt, die Gliedmaßen etwas jucken, so dass der Mensch zwar gerne einen Grund benennen wollte, sich darüber zu beklagen, es ihm aber schwerfällt, seinen Zustand in Worte zu fassen, auch weil niemand ihn absehbar recht ernst nehmen würde – kurz: Es ist das Unbehagen.

Der in München lehrende Soziologe Armin Nassehi (1960–) hat 2021 unter dem kurzen Titel "Unbehagen" jüngst eine "Theorie der überforderten Gesellschaft" veröffentlicht. Dieses irgendwo zwischen Psychologie und Metaphysik liegende Bedürfnis, ein wenig zu jammern oder sich zu kratzen, entdeckt Nassehi nicht zuletzt unter seinen Studenten. Sie litten unter verzweifeltem Unbehagen. 

Ihnen laste die Frage auf dem Gemüt: "Wie können die Menschen, kann die Menschheit, kann die Gesellschaft so viel Leid und Problematisches zulassen, während sie die Mittel dagegen doch in der Hand zu halten scheint? Warum streben die Handelnden, obwohl sie doch die Mittel dazu hätten, nicht nach dem summum bonum, das alle besserstellen und Lösungen wahrscheinlicher machen würde?"

Lehre vom Unbehagen in der sozialen Welt

In seiner Epoche weithin als Fachmann für Fragen des Gemüts anerkannt, hat schon Sigmund Freud (1856–1939), Erfinder der Psychoanalyse, im Jahr 1929/30 mit seiner Schrift "Das Unbehagen an der Kultur" einen ähnlichen Versuch gemacht, dieses Leiden zu verstehen.

In der modernen, arbeitsteiligen Welt gezwungen, sich einzufügen, wisse der Mensch nicht recht, wohin mit seinem Trieb, sich aggressiv oder sexuell zu betätigen. Die Sache diagnostizierte Freud für seine Zeitgenossen ähnlich wie Nassehi für den akademischen Nachwuchs der bayerischen Metropole, O-Ton Sigmund Freud:

"Wenn wir gegen unseren jetzigen Kulturzustand mit Recht einwenden, wie unzureichend er unsere Forderungen an eine beglückende Lebensordnung erfüllt, wieviel Leid er gewähren läßt, das wahrscheinlich zu vermeiden wäre, wenn wir mit schonungsloser Kritik die Wurzeln seiner Unvollkommenheit aufzudecken streben, üben wir gewiß unser gutes Recht und zeigen uns nicht als Kulturfeinde. Wir dürfen erwarten, allmählich solche Abänderungen unserer Kultur durchzusetzen, die unsere Bedürfnisse besser befriedigen und jener Kritik entgehen. Aber vielleicht machen wir uns auch mit der Idee vertraut, daß es Schwierigkeiten gibt, die dem Wesen der Kultur anhaften und die keinem Reformversuch weichen werden."

Die Welt ist unvollkommen, lässt sich aber kaum ändern, weil sie als Produkt seelischer Kräfte zu verstehen ist, die nicht ganz gesund sind: Daher rührt das fortwährende Gefühl der Krise. 

Philosophische Ansichten zum Unbehagen

Mit der Diagnose, dass der Mensch Unbehagen empfinde, weil er "den Grenzen seiner Macht in seinem eigenen Haus, der Seele", begegne, bewegte sich Freud in einer ehrwürdigen philosophischen Tradition, die alsbald auf eine Analyse sozialer Ordnung ausgedehnt wurde.

Im psychischen Zustand der "uneasiness" entdeckte bereits John Locke (1632–1704) das Kernmotiv allen menschlichen Handelns, das zu Leistungen antreibe, ein Unbehagen zu überwinden, das sich aber doch immer wieder einstelle, weil der Mensch nun einmal über ein Bewusstsein verfügt.

In die akademische Sprache Deutschlands führte Johann Gottfried Herder (1744–1803) die Vokabel ein: Die Schule der Skepsis sei durch eine geistige "Unbehaglichkeit" geprägt, die in ihrem "wankenden Zweifelzustand" bestehe.

Als pathologischen Zustand ganzer gesellschaftlicher Gruppen, nicht unbedingt des Menschen als solchem, machte es der Arzt und Schriftsteller Max Nordau (1849–1923) aus: Unbehagen sei eine Zeitkrankheit, bedingt durch die Differenz zwischen dem intellektuellen Fortschritt und den tatsächlichen Verhältnissen. Abhilfe sollte eine "naturwissenschaftliche Weltanschauung" schaffen und wohl auch aktivistisches Kraftmenschentum an der frischen Luft, etwa durch die Gründung eines neuen Staates. Nordau zählte zu den Gründern der zionistischen Bewegung.

Kollegiales Unbehagen in der juristischen Rhetorik

Unbehagen über eine eigene bzw. berufsständische, dabei schwer überwindbare Unzulänglichkeit, verbunden mit dem Bedürfnis, trotzdem etwas zu tun, ist Juristinnen und Juristen persönlich sicher nicht fremd, drückt sich in ihrer professionellen Rhetorik und Argumentation aber selten aus – aktivistisches Kraftmenschentum an der frischen Luft beschreibt glücklicherweise nicht ihr Berufsbild.

Immerhin, dem Muster, dass es zwar ein wenig auf dem Gemüt lastet, aber noch keinen Grund gibt, sich zu beschweren, folgt beispielsweise ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 22. August 1985 (Az. 4 StR 398/85).

Der Angeklagte, vom Landgericht (LG) Bochum wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, beanstandete mit der Revision die Zuständigkeit und Zusammensetzung des Spruchkörpers. Über ihn geurteilt hatte eine Hilfsstrafkammer, die bereits seit mehr als fünfeinhalb Jahren bestand.

In seinem Urteil rekapituliert der BGH, in welchem Umfang eine Hilfsstrafkammer zur Entlastung einer ordentlichen Strafkammer überhaupt zulässig ist, dass sie niemals an deren Stelle treten und zur "ständigen Einrichtung" werden dürfe. Im laufenden, spätestens nächsten Geschäftsjahr sei sie absehbar wieder aufzulösen.

Obwohl die Hilfsstrafkammer in Bochum weit länger bestand, attestierte der BGH, "keine hinreichenden Anhaltspunkte" dafür gefunden zu haben, dass "das Präsidium des Landgerichts sich über diese Grundsätze willkürlich … hinweggesetzt" habe. Allerdings hinterlasse die Bochumer Praxis "Unbehagen" – mit der Konsequenz, dass man sich künftig wohl wieder strenger an einen regulären Geschäftsverteilungsplan gewöhnen solle.

In dieser rhetorischen Funktion, also als geschmeidiger Appell, man möge sich in die eigene professionelle Position gewissermaßen einfühlen, sodass ein klares Argument oder eine harsche Weisung nicht ausgesprochen werden müsse, wird der Ausdruck des Unbehagens in der deutschen Rechtsprechung selten genutzt. Auch wird er beispielsweise Anwälten im Verhältnis zum Gericht nicht oder nur unter Vorbehalten gestattet (vgl. Bundesverwaltungsgericht, BVerwG, Beschl. v. 02.03.1987, Az. 2 B 25.87).

Häufiger zu finden ist er in der Rhetorik vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Statt klarer Absichten attestiert man sich selbst, dem Gericht oder Verfahrensgegnern mit einiger Frequenz ein "Unbehagen", etwa eines Mitgliedstaates, auf die Erhebung einer Steuer zu verzichten (EuGH, Urt. v. 14.07.1967, Az. C-5/66), oder um die Zurückhaltung zu beschreiben, rechtsstaatliche Bedenken gegen den Umbau der polnischen Justiz vor dem Luxemburger Gericht zu verhandeln (Schlussantrag von Generalanwalt Michal Bobek v. 20.05.2021, Az. C-748/19).

Unbehagen als abwertendes Motiv menschlichen Handelns

Im starken Kontrast zu dieser rhetorischen Funktion, eigenen oder fremden Unwillen unter juristischen Kollegen höflich, aber mit einer gewissen Bestimmtheit auszudrücken, steht eine tendenziell abwertende Feststellung fremden Unbehagens.

Eine regelrechte Konjunktur, jungen Männern ernsthafte Beweggründe abzusprechen, findet sich in Entscheidungen zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe, Artikel 4 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz (GG).

Um als Kriegsdienstverweigerer anerkannt zu werden, verlangte die ständige Rechtsprechung vom Kandidaten, dass seiner Gewissensentscheidung "regelmäßig ein inneres Ringen, also ein Abwägen der einander widerstreitenden Interessen" vorausgegangen war. Fehlte es am sprachlichen Ausdrucksvermögen, ein Abitur erhielten in den 1970er Jahren weniger als 20 Prozent aller Schulabgänger, wurde jungen Männern, die nicht zur Bundeswehr einberufen werden wollten, sehr oft attestiert, sie verfügten nur über ein "unreflektiert gefühlsmäßiges Unbehagen gegen den Kriegsdienst mit der Waffe" (so u. a. BVerwG, Beschl. 11.08.1975, Az. VI CB 43.75).

Wer dem zuständigen Prüfungsausschuss in mündlicher Anhörung nicht glaubhaft machen konnte, dramatische Gewissensqualen beim Gedanken zu empfinden, im Krieg die Waffe zu gebrauchen, musste sich etwa vorhalten lassen, dass lediglich "ein psychisches Unbehagen" wegen der "Härten des aktiven Wehrdienstes mit seinem Gemeinschaftsleben, seinem gleichförmigen Dienstbetrieb und seinem Zwang zur Einordnung in die militärischen Befehls- und Unterordnungsverhältnisse" vorliege, das zwar ein "sensibler und individualistisch veranlagter Mensch besonders stark spüre", das aber nicht als Gewissensnot galt (BVerwG, Urt. v. 17.12.1970, Az. VIII C 34.69).

Denken mit dem Kopf des Säuglings und des Federviehs

In einer Sache, die dem BGH die Gelegenheit gab, zu einer überspannten richterlichen Toleranz gegenüber Kinderlärm und Elternbrüllen aus Nachbarswohnungen Stellung zu nehmen, findet sich ein Fingerzeig, warum es eine soziale Hierarchie reproduziert, Motive anderer Menschen als bloßes Unbehagen zu qualifizieren.

Das Landgericht (LG) Berlin hatte den unaufhörlichen Krach aus einer benachbarten Wohnung damit erklärt, dass "Kleinkinder … naturgemäß nicht in der Lage [seien], ihren Unmut und Unbehagen differenziert auszudrücken". Deshalb bedienten sie "sich akustischer Äußerungen, die von anderen Personen als Schreien oder Brüllen wahrgenommen würden" (BGH, Beschl. v. 22.08.2017, Az. VIII ZR 226/16). – Wer nur Unbehagen ausdrücken kann, mehr nicht, bewegt sich also in der Nähe zum Kleinkind.

Handelt es sich hierbei noch um eine Evidenz, die Juristinnen und Juristen am eigenen Nachwuchs studieren können, wird es in einem weiteren Bereich der Wahrnehmung von Unbehagen mitunter ein wenig seltsam.

Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bedroht § 17 Nr. 2 lit. b Tierschutzgesetz, wer "einem Wirbeltier … länger anhaltende oder sich wiederholende Schmerzen oder Leiden zufügt".

Das verlangt dem Richter beispielsweise ab, sich in ein Huhn einzufühlen, das mit drei seiner Artgenossen in einem Drahtkäfig von 41 mal 42 Zentimeter bzw. mit vier Mithühnern in einem Käfig von 50 mal 42 Zentimeter Grundfläche zu leben, um jene "Beeinträchtigungen im Wohlbefinden" des Tieres zu ermitteln, die "über ein schlichtes Unbehagen hinausgehen". Der BGH erklärte, dass nichts daran auszusetzen sei, den vagen Begriff des "Leids" durch Auslegung zu bestimmen. Dass es möglich sein soll, ein "schlichtes" von einem womöglich seriöseren "Unbehagen" eines Huhns zu unterscheiden, verblüfft aber doch ein bisschen (BGH, Urt. v. 18.02.1987, Az. 2 StR 159/86).

Literatur & Quellen: Armin Nassehi: "Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft". München (Beck) 2021, 384 Seiten, 26 Euro. Sigmund Freud: "Das Unbehagen in der Kultur". Wien (Internationaler Psychoanalytischer Verlag) 1930 [online]. Ralf Konnersmann: "Unbehagen" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11. Basel (Schwabe) 1971–2007. Hans Blumenberg: "Begriffe in Geschichten". Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1998.

Zitiervorschlag

Schwer überwindbare Unzulänglichkeiten: . In: Legal Tribune Online, 05.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53069 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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