Es gibt viele launige Jahrestage. Am heutigen Sonntag soll ein "Welttag des Schachtelsatzes" begangen werden. Martin Rath stellt eine fast unerhört anmutende Frage: Haben Juristen vielleicht ein unnötig unfreundliches Verhältnis zum Schachtelsatz?
Niemand liebt Schachtelsätze wirklich. Das bemerkt man im Selbstversuch. Beispielsweise in dem Bemühen, den ob seiner Dramen um Recht und Gerechtigkeit vorbildlichen und zugleich wegen seiner Syntax für Schüler entsetzlichsten Schriftsteller der deutschen Literaturgeschichte, Heinrich von Kleist, und die wohl bedeutendste Schachtelbaukunst der deutschen Justizgeschichte, die Eisenbahn-Definition des Reichsgerichts, zusammenzuführen – in einem Satz, natürlich.
Ein Selbstversuch in Sachen Schachtelsatz könnte sich wie folgt lesen:
Schachtelsätze gelten, zunächst möglicherweise deshalb, weil einst Heinrich von Kleist, obwohl dieser eigentlich nur ein Kameralwissenschaftler war, nach heutigen Begriffen also eine Art Verwaltungsfachwirt, und unter diesen auch allenfalls ein halb studierter, er jedoch mit dem "Michael Kohlhaas" die Abgründe von Recht und Gerechtigkeit derart furchterregend ausgeleuchtet hatte, dass ihm manch die Klassiker verehrender Dichterjurist posthum gleichsam neben seinem Geburts- und schriftstellerischen Geistesadel noch die "noblesse de robe" eines "Herrn Kollegen" beilegte, ungeachtet des Umstands, dass Kleist infolge seiner Selbstentleibung eher zum Objekt von Subsumtionen taugte (Ächtung des Suizids gemäß 2. Teil, 20. Titel, § 803 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten) als zum königlich-preußischen Subsumtionsautomaten, mithin durchaus als irgendwie für Juristen stilbildend gehalten werden durfte, dann späterhin, weil das Reichsgericht, insofern zwar sehr einmalig bleibend, doch jeden Spott wider syntaktische Verrenkungen justizzünftiger Kettensatz-Geister auf sich ziehend, die Eisenbahn als ein "Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage, welche durch ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichtmassen, beziehungsweise die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist, und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der Transportbewegung benutzten Naturkräfte (Dampf, Elektrizität, thierischer oder menschlicher Muskelthätigkeit, bei geneigter Ebene der Bahn auch schon der eigenen Schwere der Transportgefäße und deren Ladung usw.) bei dem Betriebe des Unternehmens auf derselben eine verhältnismäßig gewaltige (je nach den Umständen nur bezweckter Weise nützliche, oder auch Menschenleben vernichtende und menschliche Gesundheit verletzende) Wirkung zu erzeugen fähig ist", definierte, als spezifische Untugend von Juristen.
Haben sie wirklich ein Problem mit dem Kettensatz?
Um es kurz zu machen: Dass Schachtelsätze als spezifisch juristisches Problem zu gelten haben, ist keine ausgemachte Sache.
In seinem Aufsatz "Optimierung von Anwaltsschriftsätzen – Zur Berücksichtigung von Kognitionspsychologie und Rhetorik in der anwaltlichen Argumentation" (Zeitschrift für die Anwaltspraxis 2006, S. 719–722 [€] ) spricht sich beispielsweise Rolf Platho zwar gegen umständliche und zu lange Schachtelsätze aus, erklärt aber, dass auch "das Dogma der kurzen Sätze" zu kurz greife: "Bestimmte gedankliche Zusammenhänge leben von der Zusammengehörigkeit in einem Satz, ganz abgesehen davon, dass ein Schriftsatz aus kurzen Sätzen schon in der Anmutung beim Lesen in Richtung Fibelstil tendieren dürfte."
Eine Abfolge kurzer Sätze sorge also dafür, dass beim Leser der Eindruck entstehe, es mit einem an Kinder adressierten Schriftstück zu tun zu haben.
Beispiele für zugleich komische und, Hand aufs Herz, doch eigentlich auch sehr grandiose Konstruktionen wie jene, mit der das Reichsgericht 1879 die Eisenbahn definierte, finden sich in den knapp 140 Jahren seither kaum noch. Und nebenbei: Wer damals unter welchen Produktionsbedingungen des höchstrichterlichen Spruchkörpers sich zu solchen Höhenflügen veranlasst sah – war es der Berichterstatter, war es der Senatspräsident? –, ist eine sehr interessante Frage. Würde noch ein Richter z. B. ein modernes Wertpapiergeschäft, Blüte heutiger Erfindungskunst, auf ähnliche Weise definieren können?
Für die Gegenwart darf vermutet werden, dass es zwar eine reiche Zahl von Mandanten, Prozessgegnern (unvertreten, natürlich) oder schlicht Querulanten gibt, die sich beim Schreiben seitenlanger Privatschriftsätze atemlos einer rechtsunkundigen Umnachtung hingeben, sie dies aber selten in der Weise tun, dass ihr Satzbau darüber Kleist’sches oder justizeisenbahnerisches Format annähme.
Man mag also vielleicht häufiger den Inhalt nicht, der sich in Formlosigkeit ausdrückt, ohne sich ernsthaft des Schachtelsatzes zu bedienen.
Die zivilisierende Wirkung des Schachtelsatzes
Die Vermutung, dass es die anderen Ansichten sind, die den Rezipienten verstören, verärgern oder ihm lästig fallen, und nicht ihre verschachtelte Formulierung, findet eine Stütze in einem Beschluss des Landesarbeitsgerichts Hamm (v. 25.1.2008, Az. 10 TaBV 75/07).
In der Sache fühlte sich hier das Management eines Unternehmens der Metallindustrie empfindlich von Angriffen der organisierten Arbeiterklasse berührt. Ein Gewerkschaftssekretär hatte den Vertretern der Kapitalseite vorgeworfen, das Wohl und Wehe eines örtlichen Fußballvereins mehr im Kopf zu haben als die Anliegen der eigenen Lehrlinge. Trotz fehlender Ausbildungsplätze stecke man lieber Geld in teure neue Fußballspieler. Dem Gewerkschaftssekretär wurde vorgehalten, geäußert zu haben:
"Anscheinend haben Manager heutzutage keinen Hintern mehr in der Hose, sich dagegen durchzusetzen und verhalten sich wie ein Weichkäse in der Sonne. Ob es den Managern auch egal ist, wenn ihre eigenen Kinder keinen Ausbildungsplatz oder Studienplatz bekommen?"
Gegen das in der Folge gegen ihn erlassene Verbot, die Räume des Metallunternehmens zu betreten, wehrte sich der Vertreter der Metallarbeiterklasse erfolgreich – unter anderem mit dem Argument, dass es sich bei den Mitarbeitern "überwiegend nicht um hochgebildete Akademiker" handele, sondern um "einfache gewerbliche Arbeitnehmer, die knappe Sätze und eine drastische Sprache besser verstehen als feingliedrige Schachtelsätze".
Kurz: Wer sich kämpferisch geben möchte, verzichtet sinnvollerweise auf Schachtelsätze. Argumentum e contrario: Wer sich des Schachtelsatzes bedient, ist ein friedlicher Mensch oder hüllt doch wenigstens seine passiv-aggressive Tendenz elegant ein, auf dass sich der Rezipient über die Form ärgere statt über die Aussage.
Hindert Schachtelsatzkompetenz am Staatsdienst?
Dass dieser zivilisatorische Wert der Schachtelsatzkompetenz von Staats wegen nicht gewürdigt wird, gibt ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen vom 22. Mai 2015 (Az. 5 Sa 98/14) überdeutlich zu erkennen.
Nach erfolgreichem Abschluss einer Lehre zum Fachangestellten für Bürokommunikation begehrte der Kläger in diesem Verfahren von seinem Lehrbetrieb, einer Einrichtung des öffentlichen Dienstes, einen auf ein Jahr befristeten Arbeitsvertrag in diesem Beruf mit ihm zu schließen.
Die Behörde hielt ihrem ehemaligen Lehrling vor, für die Übernahme in das befristete Angestelltenverhältnis nicht geeignet zu sein. Insbesondere sei es ihm "nicht gelungen, seine Defizite in der Textverarbeitung sowie im Ausdrucksvermögen deutlich zu verbessern".
Konkret wurde dem gewesenen Bürokommunikationslehrling vorgeworfen, er habe sich in seiner Dokumentation der von ihm absolvierten Ausbildungsstationen "eine vielzählige Verwendung der Ich-Form“ sowie in seinen schriftlichen Äußerungen der "Verwendung von sog. Schachtelsätzen" zuschulden kommen lassen.
Statt diesem Vorwurf der Behörde nun mit einem kräftigen argumentum a fortiori zu begegnen, also dem Einwand, dass eine Begabung des Bürokommunikationslehrlings in Dingen des Schachtelsatzbaus ihn doch nachgerade besonders für den öffentlichen Dienst befähige, folgte das Sächsische Landesarbeitsgericht hier leider einem "Nicht-so-schlimm"-Argument dahin, dass im persönlichen Bericht das Ich vorkommen dürfe und ein echter Schachtelsatzbau nur in einem Fall erkennbar gewesen sei.
Kurz: Statt die Fähigkeit zum Schachtelsatzbau als Beleg besonderer Kommunikationsfähigkeiten, jedenfalls im öffentlichen Dienst, wertzuschätzen, erkannten die höchsten Arbeitsrichter Sachsens in ihr ein potenzielles, wenn auch im konkreten Fall nicht erkennbares Problem.
Schachtelsatz-Vorwurf, ein neues F-Wort-Problem?
Dass Juristen die Ohren zu spitzen haben, wenn ihnen der Vorwurf begegnet, ihre Arbeit sei "formalistisch" oder "unverständlich", ihre Entscheidungen beruhten auf "formaljuristischen" Argumenten, darf als sekundäre Berufspflicht gelten. Immerhin ist "Formalismus" jenes juristische "F-Wort", das man jedenfalls dem kenntnisfreien Laien zügig zu verbieten hat.
Wird dies vernachlässigt, erinnert dankenswerterweise das öffentlich-rechtliche Fernsehen daran, wie formlose Verhandlungen über Fragen des Rechts aussehen.
Der Vorwurf, sich durch Schachtelsätze selbst unverständlich zu machen, wird – soweit erkennbar – Juristen gern an sich selbst und die eigene Zunft adressiert. Soweit er nicht substantiiert ist, darf er als milde Variante der Formalismus-Kritik gelten. Mit dieser Kritik gemeinsam hat er jedenfalls, dass, wer von jedem verstanden werden will, auf jeden Sinn verzichten muss (eine Berufspflicht der Boulevardjournalisten).
Statt also gegenüber dem Einwand einzuknicken, eine Sache sei zu kompliziert: Lieber den Gutwilligen noch einmal erklären, was Sache ist. In kurzen Sätzen, wenn das hilft.
Martin Rath arbeitet als freier Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Juristen und Sprache: . In: Legal Tribune Online, 25.02.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27201 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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