Italiener gelten als freiheitsliebende Individualisten. Mit der Ungezwungenheit ist es jedoch vorbei, sobald sie sich ans Meer begeben: Jedes Jahr zum Beginn der Badesaison überschlagen sich die Eigentümer der Strandbäder und mediale Stilberater mit Vorgaben für das korrekte Benehmen zwischen Sonnenschirmen und Liegestühlen. Wer gegen den guten Ton verstößt, kann sogar vor Gericht landen, weiß Uwe Wolf.
Mit der Vereinigung der Strandbadbetreiber in der mittelitalienischen Region Latium ist nicht zu scherzen. Nachdem die Unternehmer jahrelang dem Sittenverfall zähneknirschend zugeschaut hatten, schritten die Strandbadchefs im letzten Sommer zur Tat: In einer Broschüre mit dem Titel "Zehn Gebote für das Strandleben" stellten die Verbandsvertreter ein für alle Mal klar, was an den Stränden rund um Rom geht und was nicht.
Die Verbotsliste geht ins Detail: Damenschlüpfer und Herrenunterhosen sind auf keinen Fall am Sonnenschirm aufzuhängen; Bauchröllchen sind beim Besuch des Strandrestaurants mit T-Shirts oder Blusen zu verhüllen; Schlauchboote dürfen zur Vermeidung von Seenot nicht mit "Ehefrauen, Schwestern, Tanten und Schwiegermüttern" überladen werden; Raucher sollen sich am besten ganz fern halten.
Die Presse reagierte positiv auf die Benimm-Initiative. Nur "Bauerntrampel", so die Zeitung Il Tempo, ließen ihre Unterwäsche vor den Nasen der Strandnachbarn baumeln.
Kotelette führt zum Zusammenbruch
Die Beratung mit allen Arten von Stil-Hinweisen hat in Italien im Juli und August Hochkonjunktur. Von der Mailänder Tageszeitung Corriere della Sera bis zu dem in Rom erscheinenden Nachrichtenmagazin Espresso bieten Journalisten und selbst ernannte Benimm-Päpste ihre Ratschläge fürs Strand-Protokoll feil.
Der Sachbuchautor Tommaso de Mottoni etwa hat in seinem Werk "Wenn der Stil (leider) Urlaub macht" zahlreiche Hinweise für die korrekte Nahrungsaufnahme am Meer parat. Am besten, so de Mottoni, seien portionsweise verpackte und bereits zu eleganten Happen verarbeitete Kleinmahlzeiten wie Obst, Käsewürfel oder Cocktail-tomaten. Alles, was tropfe, Fäden ziehe oder links und rechts aus einem Sandwich herausfallen könne, hinterlasse unweigerliche einen peinlichen Eindruck ("brutta figura"). Der Genuss von üppigen Gerichten wie Lasagne oder panierten Koteletts in praller Sonne verstoße gegen den "gesunden Menschenverstand" und führe beim anschließenden Bade unweigerlich zum Zusammenbruch aufgrund von "Blutstau".
Nicola Santini, seines Zeichens Knigge-Experte mit regelmäßigen Auftritten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen RAI, instruiert seine Landsleute darüber, welches Outfit an Adria und Riviera am meisten Ehre einbringt.
Ringelsöckchen und andere Katastrophen
String-Tangas und andere schamlose Intimbekleidung betrachtet Santini, der an der New York University Öffentlichkeitsarbeit mit Schwerpunkt Business-Etikette studiert hat, als absolutes No-go. Von Santinis Bannstrahl ebenso getroffen: Schmuck, Schminke, Feinripp-Unterhemden und Söckchen in Sandalen.
In einem Land, in dem die Sonnenbrille quasi zur Grundausstattung zählt, ist die Frage, wann man das gute Stück im Sommer auflässt und abnimmt, von entscheidender Bedeutung. Santinis Tipp: Zur Begrüßung Dritter nimmt man die Brille kurz ab; bei der anschließenden Unterhaltung darf sie aufgelassen werden.
Der vom Socken-in-Sandalen-Verbot hart getroffene Nordeuropäer sollte nicht meinen, dass mit den skizzierten Etikette-Regeln zu spaßen wäre. Massive Verstöße gegen die Formvorschriften können Strafprozesse bis zum Obersten Gerichtshof in Rom nach sich ziehen.
Entblößter Deutscher in den Fängen der Carabinieri
Diese Erfahrung machte vor einigen Jahren ein deutscher Tourist in der Toskana. Am feinen Sandstrand der Versilia-Küste ließ der offensichtlich nicht mit den örtlichen Sitten vertraute Teutone beim Sonnenbad die Badehose fallen. Die von entsetzten Strandnachbarn herbei gerufene Polizei leitete ein Strafverfahren wegen Verletzung des "öffentlichen Schamgefühls" gemäß Artikel 726 des italienischen Strafgesetzbuches ein.
Der Oberste Gerichtshof in Rom, der Kassationshof, befand den Sonnenliebhaber in letzter Instanz für schuldig. Die öffentliche Entblößung des männlichen Genitals, so die Richter, sei eine Verletzung des "geltenden Gefühls für Zurückhaltung und Üblichkeit". Dies, so die Robenträger weiter, gelte auch dann, wenn sich der besagte Körperteil "im Ruhezustand" befände.
Bei weiblichen Geschlechtsmerkmalen zeigt sich der Kassationshof hingegen großzügig: Die Entblößung des Busens am Strand sei mittlerweile überwiegend hingenommen und stelle – abgesehen von Stilfragen – zumindest keine Straftat mehr dar (Italienischer Kassationshof, Az.: 3557/2000).
Der Verfasser Dr. Uwe Wolf ist Jurist und freier Autor in Düsseldorf.
Uwe Wolf, Strand-Knigge in Italien: . In: Legal Tribune Online, 08.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7021 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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