Die Geschichte der Nachkriegszeit und der jungen Bundesrepublik ist wenig präsent. Mit einem Werk zur Strafverteidigung in den Nürnberger Prozessen liegt nun eine bemerkenswerte Studie zu einem ungeliebten Stück Rechtsgeschichte vor.
Zwischen dem 20. November 1945 und dem 14. April 1949 wurde in den Nürnberger Prozessen gegen Angehörige der politischen, ökonomischen und militärischen Führung des NS-Regimes verhandelt.
Den Auftakt machte das im Oktober 1946 abgeschlossene Verfahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof gegen die Hauptkriegsverbrecher, es folgten zwölf sogenannte Nachfolgeprozesse vor US-amerikanischen Militärgerichten.
Unter dem Titel: "Politische Anwälte? – Die Verteidiger der Nürnberger Prozesse" hat der Augsburger Historiker Hubert Seliger im vergangenen Jahr eine überarbeitete Fassung seiner geschichtswissenschaftlichen Dissertation vorgelegt.
Es überrascht immer wieder, wie stiefmütterlich die historische Auseinandersetzung mit den Gründerzeiten unserer Republik bislang ausgefallen ist: Seligers Dissertation ist die erste systematische Darstellung der rund 260 Verteidiger, die den Angeklagten in diesen Verfahren zur Seite standen. Mit Blick auf ihre Funktion in Justiz und Rechtspolitik wird damit eine bemerkenswerte Erkenntnislücke geschlossen.
Mehr als "Stille Hilfe"-Anwälte
Als relativ bekannt durften bisher wohl nur zwei Gruppen von Strafverteidigern gelten, die in den Nürnberger Prozessen auftraten.
Dem Angeklagten Ernst von Weizsäcker (1882–1951), der schließlich wegen seiner Mitwirkung an der Deportation jüdischer Franzosen nach Auschwitz verurteilt wurde, standen im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess als Hauptverteidiger Hellmut Becker (1913–1993) und als Hilfsverteidiger unter anderem sein Sohn Richard von Weizsäcker (1920–2015) zur Seite.
Becker, der in Nürnberg auch die Einsatzgruppen-Mörder Martin Sandberger (1911–2010) und Otto Ohlendorf (1907–1951, hingerichtet) vertrat, zählte seit den 1950er Jahren zu den führenden Funktionären der deutschen Bildungspolitik. Richard von Weizsäcker durchlief nach Stationen als Wirtschaftsjurist seine allseits bekannte politische Karriere. Man sah sich später in den Foren der Evangelischen Kirche (EKD) oder im Diplomatischen Dienst wieder – oder auch im Dunstkreis der Odenwaldschule.
Weniger renommiert, gleichwohl recht bekannt wurde in der Bundesrepublik zudem der kleine Kreis der geschichtspolitisch engagierten Strafverteidiger, die sich nicht nur anwaltlich um angeklagte NS-Täter kümmerten. Im Zusammen-spiel mit dem Netzwerk der "Stillen Hilfe" standen sie ihren Mandanten nach den Nürnberger Prozessen auch politisch bei und hinterfragten die Berechtigung der gegen sie geführten Verfahren.
Zu ihnen zählte beispielsweise Rudolf Aschenauer (1913–1983), der später unter anderem anwaltliche Dienste für die 1952 vom Bundesverfassungsgericht verbotene "Sozialistische Reichspartei" leistete und in etlichen Strafverfahren gegen NS-Verbrecher und Angehörige rechtsextremer Kreise auftrat.
Weit weniger auffällig blieben Rechtsanwälte wie Rudolf Merkel (1905–1987), der sich als Wirtschaftsjurist während der NS-Zeit offenbar nicht desavouiert hatte und der "zutiefst erschrocken gewesen" sein soll, als ihm die Verteidigung der als Organisation angeklagten Geheimen Staatspolizei (Gestapo) angetragen wurde.
Hermann Jahrreiß (1894–1992), ein anerkannter Kölner Staats- und Völkerrechtler mit Erinnerungslücken an seine juristischen Publikationen vor 1945 und in Nürnberg Co-Verteidiger des Wehrmachtsstabschefs Alfred Jodl (1890–1946, hingerichtet), weigerte sich, an der Verteidigung im Ärzteprozess mitzuwirken – die angeklagten Angehörigen der Heilberufe hatten wegen der Menschenversuche schon damals einen schlechten Ruf.
Rekrutierungspraxis für die Strafverteidigung
Insbesondere der US-amerikanischen Seite war jedoch sehr daran gelegen, den Angeklagten in Nürnberg eine angemessene Verteidigung zukommen zu lassen – im Hauptkriegsverbrecherprozess, der noch unter Beteiligung der beiden anderen Siegermächte, der Sowjetunion und des Vereinigten Königreichs, sowie Frankreichs stattfand, opponierte erwartungsgemäß die sowjetische Seite. Die amerikanischen Behörden hingegen drangen auf ein faires Verfahren, übten mitunter sogar milden Druck aus, um Juristen zur Übernahme der Verteidigung in Nürnberg zu bewegen.
Ein Ausschluss von Anwälten blieb dem Gericht vorbehalten – und von den 264 Verteidigern, die Seliger erfasst hat, schied allenfalls eine Handvoll gegen ihren Willen aus. Nicht als Verteidiger tragbar galt etwa, wer selbst in die Mensch-heitsverbrechen verstrickt schien, beispielsweise Ernst Achenbach (1909–1991), der Mitverantwortung an der Deportation von Juden aus Frankreich trug und damit als Strafverteidiger in Nürnberg nicht in Frage kam war – sehr wohl aber als Politiker in der FDP, wo er später Karriere machte, auch dank Protektion durch den späteren Bundespräsidenten Walter Scheel (1919–2016).
Eher kurios erscheint der Wunsch, der wiederholt an den Rechtsanwalt Gustav Scanzoni von Lichtenfels (1885–1977) herangetragen wurde: Er war in führen-den NS- und SS-Kreisen als Scheidungsanwalt gefragt gewesen; dasselbe Klientel sollte er nun als Strafverteidiger vertreten.
Tatsächlich wurde ein Gutteil der Strafverteidiger in Nürnberg nicht aufgrund ihrer besonderen Sachkunde bestellt, sondern weil sie geografisch gut greifbar waren.
Martin Rath, Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 05.03.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22272 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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