Am Sinn des Strafens in seiner gegenwärtigen Form zu zweifeln, erlebt derzeit eine kleine Konjunktur. Sehr grundsätzlich in Frage stellte das Strafrecht bereits in den 1970er Jahren ein Bielefelder Jugend- und Familienrichter.
"Wenn wir alle aus der Reihe der Gesellschaft tanzen würden, wo kämen wir denn hin? Viele Menschen haben eine schlechte Jugend gehabt und sind auch nicht gestrauchelt. […] Abends nach acht Uhr wagen sich nur noch wenige Frauen und ältere Männer auf die Straße. Viele haben Angst, daß sie überfallen, ausgeraubt und vergewaltigt werden! Der Staat soll mal mehr seine Kinder vor Triebverbrechern schützen! Ebenfalls die Rentner, die von Rockern zusammengeschlagen werden – und nicht den Verbrechern ein gemütliches Domizil bieten. Wo bleibt denn da die Abschreckung?"
Mit diesen Worten drückte 1970 ein Rundfunkhörer sein Befremden über eine Reportage aus, die dem Publikum die damals neue Tendenz hatte vermitteln wollen, den Strafvollzug in der Bundesrepublik Deutschland grundlegend zu humanisieren.
Der Bielefelder Richter Helmut Ostermeyer (1928–1984) führte diese Äußerungen in den 1970er Jahren unter weiteren Beispielen für eine tiefere und nachhaltig festsitzende (sozial-) psychologische Einstellung in der Bevölkerung zur Strafe an, die sich nicht einfach nur abtun ließen als Aggressionen einzelner gestörter Leserbriefschreiberinnen und Stammtischdiktatoren.
"Die innere Einstellung des Bürgers zum Verbrechen" entspreche, so Ostermeyer, der seine Kritik jedoch nicht auf die schreibende Zunft beschränkte, "dem Bild, das die Medien geben: sie ist durch Aggressionslust und Schuldprojektion bestimmt. Im Prozess gegen einen Sexualmörder erhält das Gericht Briefe von Leuten, die sich als Henker anbieten, obwohl die Todesstrafe abgeschafft ist".
Befragungen über Straftaten brächten "den nackten Sadismus zum Vorschein". Das Volk machte Vorschläge wie: "Finger abhacken, öffentlich foltern, kastrieren, mit Knüppeln totschlagen und den Wildschweinen zum Fraß geben, beide Augen ausstechen, langsam mit Salzsäure übergießen und ähnliche Freundlichkeiten."
Versuch, dem gesellschaftlichen Straftrieb auf den Grund zu gehen
Zu dem Zeitpunkt, als sich das Volk derart hässlich dazu äußerte, wie und zu welchen Zwecken die Strafjustiz in seinem Namen arbeiten sollte, waren die einigermaßen epochalen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Grundrechtsschutz von Strafgefangenen (Beschl. v. 14.03.1972, Az. 2 BvR 41/71) oder zur lebenslangen Freiheitsstrafe (Urt. v. 21.06.1977, Az. 1 BvL 14/76) noch gar nicht gesprochen – doch traf die neue Liberalität bereits auf eine tiefe Abscheu, bevor sie den Weg durch die Instanzen überhaupt gemacht hatte.
Woher das gesellschaftliche Bedürfnis herrühren könnte, andere Menschen zu strafen – ob nun mit sadistischer Lust oder in der nüchternen Sachlichkeit seiner Kollegen – versuchte der Bielefelder Richter Helmut Ostermeyer in Büchern zu klären wie "Strafunrecht" (1971) oder "Die bestrafte Gesellschaft. Ursachen und Folgen eines falschen Rechts" (1975).
Dabei zog Ostermeyer sowohl soziologische als auch psychologische – in seinem Fall psychoanalytisch geprägte – Ansätze heran. Einer bloß soziologisch orientierten Kriminologie attestierte er sogar, wesentliche Bedingungen der Strafrechtspraxis zu übersehen, denn nicht das Verbrechen, sondern das psychische Bedürfnis nach Strafe sei die kausale Bedingung für die Entwicklung des Strafrechts: "Das Strafverlangen der Gesellschaft ist so mächtig, daß es durch das Verbrechen allein nicht erklärt werden kann. Nach Bestrafung ruft auch der, der nie durch ein Verbrechen geschädigt oder bedroht worden ist."
Es folgten daraus Aussagen von teils wuchtiger Diktion. Sexual-, Aneignungs- und Aggressionstriebe seien in der modernen Gesellschaft nicht voll zu befriedigen, ohne gegen moralische oder gesetzliche Gebote zu verstoßen. Während zur Einhaltung von Regeln der Sexualität die Moral meist hinreiche, pönalisiere das Recht vor allem die "selbstherrliche und betrügerische Aneignung wirtschaftlicher Güter und die Austragung von Streit mit Gewalt".
Zum Strafverlangen auch der selbst nicht Geschädigten komme es, weil es für normgerechtes Verhalten "eine wirksamere Belohnung als bloßes Lob" sei, die Bestrafung derjenigen zu sehen, "die ihren Trieben freien Lauf lassen. Die Bestrafung anderer hilft dem einzelnen, seine Triebe zu beherrschen, denn sie wirkt als ständige Versicherung, daß diejenigen bestraft werden, die es nicht tun. Dadurch stärkt sie sein Über-Ich und seine Moral."
Als Belohnung werde die Bestrafung anderer jedoch nur erlebt, wenn sie zugleich Triebe befriedige, insbesondere den "Aggressionstrieb der Gesetzestreuen, weil sie selbst Aggression ist, gemeinsame Aggression der Gesellschaft gegen die Kriminellen. Strafe ist Gegenaggression gegen das Verbrechen, sie ist vom Verbrechen im Wesen nicht verschieden, sondern setzt Gewalt gegen Gewalt".
Die strafende Gesellschaft identifiziere sich dabei mit der Justiz, verinnerliche "aber nicht so sehr die Einzelnormen des Strafgesetzes als vielmehr das archaisch aggressiv gestimmte Handlungsmuster von Schuld und Vergeltung".
Gesellschaftlicher Verfolgungswahn statt realistischer Rechtsgutideen
Ideen zur Humanisierung des Strafvollzugs oder nur zu einer Rückführung des materiellen Strafrechts auf den Schutz zentraler Rechtsgüter mussten nach Ostermeyer auf starken seelischen Widerstand stoßen:
"Die Bestrafung reicht zur Abfuhr aller angestauten Aggression nicht aus. Die Wut auf den Kriminellen ist größer. Die Strafen – von rechtsstaatlich gebundenen Richtern zugemessen – erscheinen als zu milde, Freisprüche als unerträglich. Zudem ist das Erlebnis der Bestrafung, seit es keine öffentlichen Hinrichtungen mehr gibt, sondern seit sie sich hinter Mauern verschlossener Anstalten abspielt, mehr oder weniger ein Gehirnvorgang bei der Lektüre der Morgenzeitung, in dem handgreifliche Aggressionsgelüste kaum untergebracht werden können. Es bleibt ein beachtliches Maß an Aggression unbefriedigt."
Daraus resultiere unter anderem eine Art kollektiver Verfolgungswahn. Die statistische Aussicht, selbst durch eine Straftat von Gewicht verletzt zu werden, sei extrem gering: "Trotzdem ist die allgemeine Phantasie ständig mit den Verbrechen beschäftigt, ganz außerhalb der Relation zur Größe der Gefahr. Mit realen Gefahren, etwa der Gefährdung im Straßenverkehr, befaßt sie sich dagegen weit weniger."
Den Kriminalroman und -film, die seit 1967 als ZDF-Format "Aktenzeichen XY" ausgestrahlte "Treibjagd auf den Täter", die systematisch ausgewertete lokale Gerichtsberichterstattung und – wie könnte es anders sein – die Kriminalitätsnarrationen der Bild-Zeitung kritisierte Ostermeyer ausführlich, weil sie diesen Verfolgungswahn bedienten und von ihm zugleich profitierten.
Er selbst schrieb 1975 eine Folge für das TV-Format "Wie würden Sie entscheiden?". Es wirkt ein wenig wie eine Bestätigung von Ostermeyers These vom Verfolgungswahn der Gesellschaft, dass die öffentlich-rechtlichen Sender bis heute "Krimis" bis zum Exzess produzieren, während es das bürgerlich-republikanische Format dieser seriös aufbereiteten Gerichtsschau auf insgesamt nicht mehr als 165 Folgen bringen sollte.
Am Gefängnis vorbeiradeln wie am Folterkerker entlang flanieren
Zu den Bemühungen der 1950er bis 1970er Jahre, Strafe grundsätzlich in Frage zu stellen und jedenfalls den Strafvollzug so weit wie nur möglich auf humanere, rationalere Handlungsweisen zu verpflichten, zeigte Ostermeyer schon im Jahr 1975 eine etwas resignative Haltung, die "Gegenaufklärung" habe sich bereits formiert:
"Die Rechtswissenschaft igelt sich ein. Unterdrückerische Institutionen profitieren von den verdummenden Massenmedien, die das Schauermärchen vom brutalen Gewalttäter millionenfach in Zeitungen, Illustrierten und auf Bildschirmen auftischen. Politiker kuschen aus Angst vor Stimmenverlusten."
Die Situation mag sich seither noch verschärft haben, unter anderem weil die Sozialen Medien noch mehr auf gefühlige Verkürzungen bauen als der klassische Journalismus und sich heute selbst Provinzpolitiker demoskopisch unterrichten lassen, wie sehr sie den Wähler fürchten müssen, bevor sie zum Beispiel das Wort "Tempolimit" auch nur in den Mund nehmen.
Gleichwohl erfährt das abolitionistische Anliegen der langfristigen Abschaffung der Freiheitsstrafe – wie es etwa im Manifest namhafter Kriminologen und Juristen formuliert wird – wieder eine gewisse Grundaufmerksamkeit. Im öffentlich-rechtlichen Nischenrundfunk lässt sich die Argumentation für und gegen die allmähliche Ablösung des gegenwärtigen Strafvollzugs durch zivilere Methoden der Normdurchsetzung nachhören – so sehr hier auch die eine an dem anderen vorbeizureden scheint.
Der niederländische Jurist und Kriminologe Herman Bianchi (1924–2015) formulierte schon in den 1960er Jahren ein starkes Bild, wie viel langer Atem nötig sein wird: "Der mittelalterliche Handwerker lief mit einem ebenso ruhigen Herzen die Foltertürme entlang wie der Angestellte des 20. Jahrhunderts entlang des Gefängnisses radelt."
Einstellungen ändern sich, brauchen aber doch ein wenig Zeit. Glücklich darf sich jedoch eine Gesellschaft schätzen, in der nicht bereits Überlegungen zur Ablösung des Gefängnisses öffentlich für unmöglich erklärt werden – wohl aus der Tiefe einer unguten Triebstruktur (siehe einige Kommentare hierzu). Denn in dem Bild, dass etwa die Angehörigen künftiger Generationen im solar betriebenen Leichtbauflugzeug über die Pavillons der gemeindenahen Psychiatrie fliegen könnten, so wie man heute noch an den Mauern der Justizvollzugsanstalten entlang radelt, steckt nicht nur die Idee, dass sich technologischer Pessimismus überwinden lässt – auch Stillstand und Resignation mit Blick auf die Durchsetzung zwingenden Rechts sollte sich eine Gesellschaft nicht leisten dürfen.
Tipp: Helmut Ostermeyer: Die bestrafte Gesellschaft. Ursachen und Folgen eines falschen Rechts. München/Wien (Hanser) 1975.
Bedürfnis nach Strafe: . In: Legal Tribune Online, 07.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41821 (abgerufen am: 25.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag