Am 24. Juli 1962 bestätigte der BGH ein Urteil des Landgerichts Trier, das im Jahr zuvor zwei frühere SS-Angehörige freigesprochen hatte. Ihnen war Beihilfe zum Mord an mindestens 30 Kriegsgefangenen in der Eifel vorgeworfen worden.
Zwischen dem niederrheinischen Kleve und dem südbadischen Weil wurde in den Jahren 1936 bis 1939 mit dem Westwall ein gewaltiges militärisches Bauvorhaben vorangetrieben. Verteilt über rund 600 Kilometer entstanden u. a. mehr als 14.000 Bunker und Felder voller Höcker aus Beton und Stahl zur Abwehr von Panzern.
Diese Befestigungsanlage war nicht nur nach Artikel 180 des Versailler Friedensvertrags völkerrechtswidrig, sie verschlang auch einen beträchtlichen Teil der deutschen Stahl- und Betonproduktion und trieb – finanziert über das diskrete System der MeFo-Wechsel – die Staatsverschuldung und die Inflation an.
Weil ein großer Teil der Anlagen in der tiefsten Provinz entstand und noch Schlimmeres folgte, ist heute kaum noch präsent, dass hier bis zu 600.000 Arbeitskräfte beschäftigt wurden, die dem Reichsarbeitsdienst unterworfen waren, für private Unternehmen oder die Organisation Todt arbeiteten. Bei Laune gehalten wurden sie mit den diktaturüblichen Mitteln, also Appellen an den Gemeinschaftsgeist und Orden.
Wer seine Abneigung gegen die allgemeine Dienstpflicht äußerte, als "arbeitsscheu" galt oder gar politischen Widerwillen andeutete, lief Gefahr, in ein Lager verbracht zu werden – beispielsweise in das zunächst als SS-Sonderlager, später als KZ geführte Lager Hinzert.
Diese 25 Kilometer östlich von Trier, in der tiefsten Abgeschiedenheit der Eifel gelegene Einrichtung diente anfangs dazu, unwillige Arbeitskräfte des Westwall-Projekts militärisch zu disziplinieren. Für politische Schulung zuständig war der SS-Offizier Gustav Riek (1900–1976), im Hauptberuf Archäologie-Professor in Tübingen. Er sollte später noch eine juristische Randrolle spielen.
Die Brutalität im Lager nahm nach Beginn des Zweiten Weltkriegs zu, als es in das allgemeine KZ-System integriert und das Personal mit den für jede Bürokratie üblichen dienstrechtlichen Anpassungen übernommen wurde – insbesondere, nachdem das Großherzogtum Luxemburg, wie die anderen westlichen Nachbarländer Deutschlands, im Mai und Juni 1940 von der Wehrmacht besetzt worden war.
Erster Massenmord im Eifellager 1941
In seinem Urteil vom 24. Juli 1962 fasste der Bundesgerichtshof (BGH) zeitlich etwas vage eine Tat zusammen, die knapp 21 Jahre zuvor im Lager Hinzert begangen worden war (Az. 1 StR 272/62):
"Um die Mitte Oktober 1941 wurden in dem SS-Sonderlager H[inzert] mindestens dreißig russische Kriegsgefangene auf Grund des sog. Kommissarbefehls Hitlers durch Zyankalispritzen getötet. Den Opfern wurde vorgespiegelt, sie sollten vor einem Arbeitseinsatz ärztlich untersucht und geimpft werden, dem Lagerpersonal gegenüber wurde wahrheitswidrig von Hinrichtungen zum Tode verurteilter Partisanen gesprochen. Bei den tödlichen Injektionen des Lagerarztes Dr. W[olter] wirkten die beiden Angeklagten, die als Sanitäter zum Personal des Krankenreviers gehörten, als Handlanger mit."
1961 waren vor dem Landgericht (LG) Trier die beiden früheren SS-Angehörigen – ein inzwischen 51-jähriger Maurermeister und ein nun 49-jähriger Dentist – wegen des Vorwurfs angeklagt worden, 20 Jahre zuvor Beihilfe zur Ermordung von 70 sowjetischen Kriegsgefangenen geleistet zu haben.
Die Beweisaufnahme kam zwar zu dem Ergebnis, dass die beiden im Oktober 1941 an der Ermordung von mindestens 30 Menschen mitgewirkt hatten, das LG Trier war aber nicht überzeugt, den beiden früheren SS-Angehörigen nachweisen zu können, erkannt zu haben, dass der ihnen erteilte Befehl zur Mitwirkung offensichtlich rechtswidrig war.
"Kommissarbefehl" aus dem Juni 1941
Dank der Arbeit niederländischer Historiker ist das Urteil des LG Trier vom 20. Dezember 1961 (Az. 5 Ks 4/61) gut zugänglich. Es ist ein im ganzen Wortlaut bemerkenswertes Dokument, das hier nur in groben Zügen zusammengefasst werden kann.
Das LG Trier traf recht detaillierte Feststellungen zur Gliederung und Ideologie der SS und erschloss auch ausführlich den juristisch-organisatorischen Hintergrund des Mords.
Nach dem von Hitler am 6. Juni 1941 erlassenen "Kommissarbefehl" sollten die "politischen Kommissare" der sowjetischen Streitkräfte unverzüglich getötet werden.
Hierzu griff das LG Trier nun auch Vorgänge auf, die nach seiner Erkenntnis dem Erlass des "Kommissarbefehls" vorausgingen – so habe der an der Ausarbeitung beteiligte General Walter Warlimont (1894–1976) Vorkehrungen für den Fall getroffen, dass der Befehl zu milde ausfallen würde. Zustande kam indes die in jeder Beziehung mörderische Fassung: "Diese Kommissare werden nicht als Soldaten anerkannt; der für Kriegsgefangene völkerrechtlich geltende Schutz findet auf sie keine Anwendung. Sie sind nach durchgeführter Absonderung zu erledigen."
Nach Erkenntnissen des LG Trier wurde die Ermordung der politischen Offiziere der sowjetischen Streitkräfte von der Wehrmacht, gemessen an den terroristischen Zielen der deutschen Regierung, zögerlich betrieben, was zu dem Arrangement führte, ihre Tötung arbeitsteilig zu organisieren. Die Opfer wurden daher routiniert an SS-Einheiten übergeben.
Bis sich diese Arbeitsteilung zwischen Wehrmacht und SS – den "Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD" – etabliert hatte, waren jedoch bereits sowjetische Kriegsgefangene nach Deutschland verbracht worden, die nach dem "Kommissarbefehl" unverzüglich hätten ermordet werden sollen.
Vortäuschung einer medizinischen Untersuchung
Die Ermordung der 70, nach Überzeugung des Gerichts mindestens 30 sowjetischen Kriegsgefangenen in der Eifel, die auf dem Truppenübungsplatz Baumholder gefangen gehalten wurden, folgte diesem Muster – sie wurden formal aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und der SS zu ihrer Ermordung ins Lager Hinzert überstellt.
Dort wurden die sowjetischen Gefangenen in die sogenannte Quarantäne-Baracke geführt, ein im NS-Lagersystem typisches Durchgangsgebäude, in dem sorgfältig ein Teil mit Tüchern und Laken als Sanitätsraum gestaltet worden war. Die Neuankömmlinge durften den Eindruck gewinnen, einer gewöhnlichen medizinischen Eingangsuntersuchung unterzogen zu werden und eine Impfung zu erhalten. Sie erhielten jedoch eine Blausäure-Injektion, wurden im Jargon der Täter "abgespritzt", die Leichen auf einen Lkw verladen.
Die Beihilfehandlungen der späteren Angeklagten waren beachtlich. So hatten sie daran mitgewirkt, die sowjetischen Soldaten an eine medizinische Untersuchung glauben zu lassen, einer hatte tags zuvor die Blausäure-Lösung angesetzt und war dem Lagerarzt dabei zur Hand gegangen, die Spritzen aufzuziehen.
Dabei auf Befehl gehandelt zu haben, befreite einen Tatbeteiligten nach § 47 Militärstrafgesetzbuch jedoch nicht von Strafe, "wenn ihm bekannt gewesen, daß der Befehl des Vorgesetzten eine Handlung betraf, welche ein bürgerliches oder militärisches Verbrechen oder Vergehen bezweckte".
Die Angeklagten verteidigten sich damit, sie hätten der Versicherung ihrer Vorgesetzten geglaubt, an einer rechtmäßigen Hinrichtung sowjetischer Kriegsverbrecher mitzuwirken.
Das LG Trier äußerte hier deutliche Vorbehalte, was den Vorsatz betraf. Angesichts der Bereitwilligkeit der sowjetischen Soldaten, an der vermeintlichen medizinischen Untersuchung mitzuwirken und der ganzen Machenschaften, ihnen eine solche vorzuspiegeln, hätten den Angeklagten Zweifel an der vorgeblichen Rechtmäßigkeit der Hinrichtung kommen sollen – ein positives Wissen der Unrechtmäßigkeit des Befehls glaubte das Gericht den Angeklagten aber nicht unterstellen zu können. Daher waren sie freizusprechen.
Nicht "anständig" geblieben
In diesem Urteil hatte sich das LG Trier sichtlich vom Eindruck leiten lassen, es mit etwas einfältigen, einst am unteren Ende der SS-Hierarchie wirkenden Tätern zu tun zu haben.
Beide waren zudem zu Kriegszeiten auch selbst der Strafverfolgung durch die SS-Justiz ausgesetzt gewesen, ihrer absurden Natur entsprechend nicht wegen der Misshandlung oder Tötung von Gefangenen, sondern wegen Korruption. Einem der beiden, einem offenbar auch nach den Maßstäben der 1960er Jahre sehr frommen Katholiken, kam diese vermeint- oder tatsächliche Bestechlichkeit nunmehr zugute. Er hatte der kruden NS-Logik zuwidergehandelt, wonach ein SS-Mörder bei seinem Tun "anständig" bleiben sollte, indem er gegen einen Anteil für sich Lebensmittel, aber auch geweihte Hostien ins Lager einschmuggelte und bei heimlichen Gottesdiensten wegschaute.
Immerhin, zwei als Haupttäter des Mords an den mindestens 30 sowjetischen Soldaten in Frage kommende Beteiligte hatte die Justiz bereits anderweitig erreicht. Der Lagerkommandant Hermann Pister (1885–1948) war in seiner weiteren Karriere vom "Oberleiter von Erziehungslagern für Westwallarbeiter" schließlich zum Kommandanten des KZ Buchenwald avanciert. Der Mediziner Dr. Waldemar Wolter (1908–1947) wechselte vom kleinen Lager in der Eifel über die KZ Sachsenhausen und Dachau ins KZ Mauthausen. Pister, von einem US-Militärgericht zum Tod verurteilt, starb vor der Hinrichtung. Wolter, im sog. Mauthausen-Hauptprozess verurteilt, wurde hingerichtet.
BGH-Urteil vom 24. Juli 1962
Gegen das Urteil des LG Trier hatte die Staatsanwaltschaft Revision unter anderem mit der Begründung eingelegt, es seien Zeugen vereidigt worden, obwohl sie als Tatbeteiligte in Frage gekommen waren – davon ist nach § 60 Strafprozessordnung (StPO) abzusehen.
Damit drang sie beim BGH nicht durch. Der Tübinger Archäologie-Professor Gustav Riek, der nicht nur zuständig gewesen war, am Westwall die völkische Weltanschauung zu predigen, sondern während der Tötung der sowjetischen Soldaten den Wachdienst mit verantwortete, war nämlich unvereidigt geblieben – für den BGH eines von mehreren Indizien, dass das LG Trier bei der Vereidigung sorgfältig vorgegangen war.
Eine Strafverfolgung Rieks erfolgte jedoch, soweit überliefert, nicht.
Nachkriegsjustiz in der Bundesrepublik: . In: Legal Tribune Online, 24.07.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49136 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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