Einem SS-Mann und Polizisten blieben 1960 Versorgungsansprüche verwehrt: Nicht aus moralischen Gründen, sondern wegen Abgrenzung der Dienstzeiten, obwohl die historische Forschung zum Verhältnis von SS und Polizei schon 1955 recht klug war.
"Wer für die Sicherheit verantwortlich war, durfte deshalb nicht mehr ruhen, solange er noch eine einzige Möglichkeit der Sicherung nicht wahrgenommen hatte, das heißt: solange noch nicht die letzte Schlüsselstellung in seiner Hand und der letzte mögliche Gegner nicht beseitigt oder gebunden war. Wenn die Sicherheit zum Prinzip wird, das über alle Gesetze und jeden Rechtsgrundsatz dominiert, dann kann der für die Sicherheit Verantwortliche nicht anders, als zur totalen Herrschaft streben, selbst wenn er von Ehrgeiz und Machtdrang völlig frei wäre."
Mit diesen starken Worten beschrieb der Historiker Hans Buchheim (1922–2016) in seinem Aufsatz "Die SS in der Verfassung des Dritten Reiches" in den "Vierteljahresheften für Zeitgeschichte" bereits 1955 ein Motiv totalitärer Herrschaftsentwicklung.
Es wäre reizvoll, diese Einsichten Buchheims – der als politischer Gelehrter nicht zuletzt in der CDU gern gesehen war – mit späterem Sicherheitsdenken zu kontrastieren. Seit der Bonner Staatsrechtslehrer Josef Isensee (1937–) im Jahr 1982 den notorischen Vortrag zum "Grundrecht auf Sicherheit" hielt, hat die einst aus Erfahrung starke bürgerliche Skepsis auf diesem Gebiet an Boden verloren.
Forensisch wichtig wurde Buchheims Studie indes in einem Verfahren, das mit Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. April 1960 sein Ende fand (Az. VI C 63.58) – eine Entscheidung, die weniger Auskunft zum Schwinden skeptischen Denkens im deutschen Bürgertum gibt als über eine eigenartige Geschichte der Versorgung ehemaliger Funktionsträger des NS-Staats.
Witwe Freisler, Witwe Heydrich – und ein Polizist mit SS-Zeiten
Nach §§ 29, 37 des "Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen" vom 11. Mai 1951 ("131er-Gesetz") konnten vor dem 8. Mai 1945 tätige Beamte oder ihre Hinterbliebenen Versorgung in Form von Ruhestandsbezügen oder eines Übergangsgehalts nur dann beanspruchen, wenn der Beamte eine "Dienstzeit von mindestens zehn Jahren abgeleistet" hatte oder beispielsweise durch Krankheit oder Verwundung davon abgehalten worden war.
In diesem Fall hatte ein inzwischen 46 Jahre alter Mann mit dem Ziel geklagt, ein Übergangsgehalt als ehemaliger Reichsbeamter zu erhalten – strittig war, auf welche Dienstzeiten er es im NS-Staat gebracht hatte.
Zum Beamten auf Lebenszeit war er erst am 22. Januar 1941 ernannt worden. Potenziell als Dienstzeiten anzuerkennen waren nach Ansicht der Behörde zwar knapp zweieinhalb Jahre Reichsarbeitsdienst, ein Jahr Kriegsgefangenschaft und anderthalb Jahre Internierungshaft.
Nicht in Betracht kommen sollten jedoch die Zugehörigkeit des Klägers zur SS-Verfügungstruppe in München von 1936 bis 1938 und der Besuch der SS-Junkerschule in Tölz, einer Bildungseinrichtung für Polizei- und SS-Kader.
Versorgungsansprüche von NS-Funktionsträgern konnten Grenzen haben
Selbst bei großzügiger Rechnung des zuletzt am 20. April 1943 – "Führers Geburtstag" – zum Hauptmann der Schutzpolizei beförderten Klägers, nun Angehöriger der SS-Polizeidivision, kamen nur neun Jahre, neun Monate und 16 Tage zusammen, sodass es entscheidend darauf ankam, wie SS-Verfügungstruppe und -Junkerschule versorgungsrechtlich zu berücksichtigen waren.
Heute weckt schon die Frage, ob ein vormaliger SS-Mann als solcher Versorgungsansprüche haben sollte, moralische Zweifel. Den Versorgungs- und Entschädigungsgesetzen der Bundesrepublik waren derartige Bedenken jedoch weitgehend fremd.
Von den Wohltaten des 131er-Gesetzes profitieren sollten nach § 3 Beamte im Wesentlichen nur dann nicht, mit deren Dienstverhältnis die Spruchkammern bereits Schluss gemacht hatten, sowie Bedienstete der Geheimen Staatspolizei. Eine allgemeinere Regelung wie § 1 Abs. 4 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) vom 16. September 1953, die von der Entschädigung wegen NS-Verfolgung ausschloss, "wer der nationalsozialistischen oder einer anderen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet hat", kannte das Beamtenversorgungsrecht nicht.
Auf das "Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz)" vom 20. Dezember 1950 konnten sogar Lina Heydrich (1911–1985) oder Marion Freisler (1910–1997) Ansprüche stützen – Witwen der beiden bekannten durch Kriegseinwirkungen ums Leben gekommenen NS-Verbrecher Reinhard Heydrich (1904–1942) und Roland Freisler (1893–1945).
Von Versorgung oder Wiederverwendung ausgeschlossene Personenkreise – vormalige Gestapo-Beamte, die sich als gewöhnliche Polizisten empfanden, Offiziere der Waffen-SS, die gerne bei der Bundeswehr untergekommen wären – thematisierten mehr oder weniger lautstark, diskriminiert zu sein – die gegenläufige Kritik an der Versorgung der Heydrich-Witwe hatte eher Ausnahmecharakter.
Mit den Zeiten, die der vormalige Polizist bei der SS-Verfügungstruppe und in der SS-Junkerschule Tölz zugebracht hatte, befassten sich die Gerichte mit einer – vor diesem Hintergrund womöglich überraschenden – Freude am Detail.
Gestützt unter anderem auf die von Hans Buchheim wenige Jahre zuvor veröffentlichte Studie wurde die SS-Verfügungstruppe als zwar aus dem Etat des Reichsinnenministeriums bezahlte, jedoch außerhalb der hergebrachten Ordnung von Polizei und Militär stehende, allein auf Hitler eingeschworene bewaffnete Macht qualifiziert – wie andere SS-Einheiten ein auch verfassungsrechtliches Novum des NS-Systems. Dass die SS-Verfügungstruppe bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs – hier ging sie in der Waffen-SS auf, die eine Gutschrift aufs bundesdeutsche Dienstzeitkonto ermöglichte – damit keine genuin staatliche, sondern eine Einheit der NSDAP gewesen sei, konnte sich auf einschlägige Erlasse Hitlers berufen.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte im Ergebnis daher nichts an den Entscheidungen der Vorinstanzen auszusetzen, die Anerkennung dieser spezifischen SS-Aktivitäten als beamtenrechtliche Dienstzeit zu verweigern – wohlgemerkt nicht aus Gründen der Unwürdigkeit, sondern einer recht formalen Einordnung.
Verbrechen der Polizei im NS-Staat finden erst spät Beachtung
Bemerkenswert ist aus heutiger Sicht, dass die Gerichte seinerzeit zwar in einen Abgrund blickten, dabei jedoch das volle Bild nicht sahen.
Denn das Urteil vom 5. April 1960 stellte nicht nur fest, dass bestimmte SS-Dienstzeiten keine versorgungsrechtlichen Vorteile vermittelten, es bestätigte indirekt das Dogma, wonach neben der Wehrmacht auch die Polizei des NS-Staats als grundsätzlich unbescholtene Einrichtung zu gelten habe.
Hier überrascht nun der Blick in Buchheims Darstellung aus dem Jahr 1955. Während es für die beamtenrechtliche Streitsache nur von Interesse war, ob die SS-Junkerschule und die SS-Verfügungstruppe als in irgendeiner Weise "ordentliche" Form von staatlicher Verwaltung oder Streitkraft zu berücksichtigen seien, hatte der Historiker herausgearbeitet, wie weit die Amalgamierung von SS und Polizei bereits vorangeschritten war – und auch, welche rechtlichen Rahmenbedingungen die Täterschaft an Kriegsverbrechen und Völkermord beförderten. Die Zugehörigkeit zur SS erlaubte beispielsweise, in der Zone zwischen der Front und Gebieten der sogenannten Zivilverwaltung tätig zu werden – ein Raum exzeptioneller Gewalt gegen Zivilisten.
Auch belegte Buchheim, dass die Amalgamierung von Polizei und SS so weit fortgeschritten war, dass eine nachträgliche Zergliederung in eine "saubere" Verwaltungsbehörde hier, eine terroristische Weltanschauungstruppe dort – wie sie in der Bundesrepublik unter anderem mit Blick aufs Beamtenrecht üblich wurde – jedenfalls zweifelhaft erscheinen musste.
Eine echte Konjunktur sollte – trotz einzelner Strafverfahren – die Frage nach der verbrecherischen Rolle der vermeintlich "sauberen" Polizei im NS-Staat jedoch erst erleben, nachdem der amerikanische Historiker Christopher Browning (1944–) im Jahr 1993 seine Studie zu den Verbrechen des Reserve-Polizei-Bataillons 101 vorgelegt hatte, dessen Angehörige unmittelbar für den Mord an 38.000 Juden verantwortlich waren.
Ihre Weltanschauung und ihr polizeifachliches Wissen hatten die Offiziere solcher Einheiten der Ordnungspolizei in Einrichtungen wie der SS-Junkerschule Tölz erworben.
Das Urteil vom 5. April 1960 oder der Aufsatz Buchheims von 1955 hätten schon Anlass geben können, in diesen Abgrund zu blicken.
Nachträgliche Unwürdigkeit für Versorgungsansprüche
In den 1990er Jahren bemühte sich der Gesetzgeber, einen Teil jener Versorgungsansprüche wieder zu beseitigen, die in bewusster Blindheit gegenüber der verbrecherischen Geschichte von Institutionen des NS-Staats eingeräumt worden waren.
Überrascht von Erkenntnissen, die mit Blick ins Bundesgesetzblatt oder in Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts seit Jahrzehnten offenkundig sein konnten, zeigte sich die deutsche Öffentlichkeit 1993 entrüstet, als Leistungen an ehemalige SS-Angehörige in Lettland bekannt wurden.
Eine Möglichkeit, künftige Leistungen wegen Verstößen "gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit" zu verweigern, wurde mit § 1a Bundesversorgunggesetz erst 1997 eingeführt.
Ein Versuch, durch Abgleich von Daten des Simon Wiesenthal Centers und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, unwürdige Leistungsbezieher zu identifizieren führte bei rund 10.000 Verdachtsfällen zu nur 99 entsprechenden Bescheiden. Ganz gleich, ob man dem Vorgang skeptisch begegnet oder ihn für moralisch überfällig hält: Der hierzu im Jahr 2016 vorgelegte Schlussbericht dokumentierte eine Farce aus hoher Moral und striktem Datenschutz, gutem Willen und bürokratischer Unlust.
Hätte vor 60 Jahren jemand näher hingeschaut und gefragt, worin der vermeintliche saubere und versorgungspflichtige Dienst in einer SS-Polizeidivision sich von dem in der SS-Verfügungstruppe unterschied – die nachträglichen moralischen Kompensationsversuche würden weniger verzweifelt wirken.
Versorgungsansprüche von SS-Verbrechern: . In: Legal Tribune Online, 05.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41220 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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