In Zeiten der Seuche wird viel von Solidarität gesprochen. Neben der Frage, warum hier Rechtsgehorsam und Pflichtgefühl nicht genügen, ist interessant, wofür "Solidarität" in der Geschichte des Rechts stand.
Regierung, Parlament und öffentlich-rechtlichen Medien wurde der Floh bereits im März 2020 ins Ohr gesetzt, als der Deutsche Ethikrat seine Epistel "Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise" veröffentlichte.
Als "Solidarität" definierte das Gremium "die Bereitschaft zu prosozialen Handlungen auf der Grundlage relevanter Gemeinsamkeit, die der solidarbereiten Person etwas abverlangen" – um in etwas vulgär-ökonomischer Sprache näher zu erläutern, dass die erforderlichen "Solidaritätsressourcen" bewirtschaftet werden müssten, um sie im Volk am Leben zu erhalten.
Auf diesem Niveau begrifflicher Schärfe konnte der seinerzeitige Ethikrat-Vorsitzende, der evangelische Theologe Peter Dambrück (1964–), dieser Tage dem Magazin Der Spiegel u. a. erklären, dass die "jüngere Generation" in der COVID-19-Krise "in bewundernswerter Weise Solidarität mit den Älteren geübt" habe, weil sie sich inzwischen "im dritten Onlinesemester" befinde.
In der Zwischenzeit drohte das Solidaritätsressourcen-Management des deutschen Volkes jedenfalls affektiv Schaden durch den Bundesminister für Gesundheit zu nehmen.
Gemessen daran, dass die Worte eines Ministers verbindliches staatliches Handeln ankündigen oder rechtfertigen sollten, äußerte Jens Spahn (1980–) erschreckend fahrlässig im Dezember 2020: "Viele warten solidarisch, damit einige als erste geimpft werden können. Und die Noch-Nicht-Geimpften erwarten umgekehrt, dass sich die Geimpften solidarisch gedulden."
Rechtsgehorsam oder "Solidarität"
Die Gedankenlosigkeit dieser rhetorischen Pirouetten dazu, was "Solidarität" denn nun normativ belastbar vom Bürger abverlangt, ist vielleicht weniger verstörend als der Umstand, dass hier der eigentliche Beruf von Ministern und Abgeordneten bis zur Unkenntlichkeit hinter moralisierenden Aussagen verschwand.
Denn in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat hat der Gesetzgeber dem Bürger in normativer Hinsicht nicht viel mehr als Rechtsgehorsam im Allgemeinen und Pflichtbewusstsein dort abzuverlangen, wo es rechtlich geboten ist.
Das Pflichtgefühl, dem Gesetz eines solchen Staates zu folgen, sollte Moral genug sein. Widerspruch lässt sich durch Wahlen oder vor Gericht anbringen – kein Grund, den öffentlichen Diskurs bei jeder Gelegenheit zum Kirchentag zu machen.
Dass ausgerechnet der Begriff "Solidarität" seit Beginn der Pandemie genutzt wurde, die Bürger in einen mentalen Beichtstuhl zu drängen, aus dem viele jetzt nur noch schwer wieder herauszuholen sind, ist bedauerlich – denn ursprünglich kommt das Wort aus der Rechtssprache, mit ihrer gelegentlich höheren Präzision.
Das Reichsgericht (RG) kannte "Solidarität" noch als nüchternes Synonym für Formen der gesamtschuldnerischen Haftung. Beispielsweise sollte der Kaufmann, der aus einer offenen Handelsgesellschaft ausgeschieden war, vor einer "Solidarität" geschützt werden, deren Reichweite er nicht mehr prüfen konnte, weil ihm nunmehr der Zugriff auf die Papiere und Geschäftsbücher der Gesellschaft fehlte (RG, Urt. v. 04.02.1882, Az. I 659/81).
Im Rheinland, wo bis zum 31. Dezember 1899 noch der Code Napoléon galt, betraf "Solidarität" etwa die Frage, ob die alte französische Strafnorm, wonach Mittäter für Geldbußen oder Schadensersatz gemeinsam hafteten, durch preußisches Gesetz für das bürgerliche Recht abgeschafft sei (RG, Urt. v. 30.09.1887, Az. II 126/87).
BAG: "Solidarität" unter "Arbeitskameraden"
Zwar war das Wort aus der strengeren juristischen Sprache schon im Jahr 1842 herausgewachsen, als der französische Offizier, Sozialist und Anwaltssohn Hippolyte Renaud (1803–1874) die "Solidarité" zu einem "göttlichen Prinzip" verklärte, das die Interessen aller Mitglieder der menschlichen "Familie" zusammenbringe.
Als seriöse Idee wurde das aber bestenfalls unter Philosophen verhandelt. Denn zu ihren Geltungsgründen zählte der obskure französische Denker auch die christliche Lehre der Erbsünde, die jeden Menschen unter das Joch der Solidarität zwinge. Vom sozialistisch-christlichen Herrgottswinkel in eine gefühlige Semantik war es da ein weiter Weg.
Wenn beispielsweise das Oberlandesgericht Nürnberg in einem Scheidungsverfahren in den 1950er Jahren von einem Mangel an "elterlicher Solidarität gegenüber der Unbotmäßigkeit der Kinder" wusste, verriet das ein analytisch-neutrales Verständnis vom Begriff, fern der Vorstellung menschlicher Wärme (vgl. BGH, Urt. v. 27.04.1955, Az. IV ZR 295/54): Eltern hafteten gegenüber ihren Kindern, indem sie einig zu sein hatten, wann diese pädagogisch sinnvoll zu schlagen seien.
Bei oberflächlicher Betrachtung schien aber das Bundesarbeitsgericht (BAG) seit den 1950er Jahren das ältere haftungsrechtliche Verständnis der "Solidarität" langsam im Sinn einer allgemein-menschlichen Pflicht aufzulösen, sich ungefragt im Dienst des anderen wiederzufinden.
Beeinflusst von Hans Carl Nipperdey (1895–1968) entdeckte das BAG beispielsweise die "Solidarität" unter den Beschäftigten eines Betriebs als Möglichkeit, nicht wegen jedes kleinen Unfalls unter "Arbeitskameraden" in Haftung genommen zu werden (vgl. BAG, Beschl. v. 25.09.1957, GS 4/56).
Die "Solidarität" des BAG betraf auch die Frage, wie im Fall von Streik und Aussperrung mit Arbeitern umzugehen sei, die nicht in der kampfführenden Gewerkschaft organisiert, trotzdem ausgesperrt worden waren (vgl. BAG, Beschl. v. 29.11.1967, Az. GS 1/67).
Hier von "Solidarität" zu sprechen, erlaubte dem BAG, außerhalb der Begriffe des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) und der allgemeinen zivilrechtlichen Dogmatik zu argumentieren. Im Kern diente das aber weiterhin doch dazu, konkrete Rechtsfragen zu lösen.
"Solidarität" der Halbstarken und Kaminkehrer
Als normatives Joch, das Menschen ohne rechtliches Zutun belasten möge, blieb "Solidarität" weiterhin suspekt. Angemessen erschien "Solidarität" allenfalls, wo sie zünftig organisiert war.
Eine "Bäcker-Hefefabrik Hameln" zog sich beispielsweise wegen ihrer Firma den Unmut des Oberlandesgerichts Celle zu, weil sie in unlauterer Weise an die "Solidarität" unter den Bäckern appelliere, indem sie den Anschein erwecke, sie sei nicht "irgendeine", sondern "die" Hefefabrik für dieses verkammerte Handwerk (vgl. BGH, Urt. v. 21.04.1961, Az. I ZR 59/60).
Berufsständisch eingehegt war sie auch, als der Bundesfinanzhof (BFH) bei der Frage, ob Beiträge zur Kaminkehrerversorgung Betriebs- oder Sonderausgaben seien, darauf verwies, dass sie auch aus Solidarität für Kaminkehrer geleistet würden, die vorzeitig in den Ruhestand gingen oder aus den deutschen Ostgebieten vertrieben worden waren (Urt. v. 14.03.1958, Az. VI 41/55 U).
"Solidarität" blieb also naturwüchsig denkbar, wurde aber kritisch gesehen: Nach einer Auseinandersetzung zwischen sauerländischen Halbstarken und der Polizei musste es sich einer der Jugendlichen nicht gefallen lassen, dass
ihm die Strafaussetzung zur Bewährung "wegen der Solidarität … zwischen den Angeklagten" verweigert wurde (BGH, Urt. 09.12.1966, Az. 4 StR 330/66).
"Solidarität" roch nach "Volksgemeinschaft"
In einem Urteil des BFH findet sich ein Hinweis darauf, was Richter davon abhalten mochte, "Solidarität" über "Arbeitskameraden" oder sauerländische Halbstarke hinaus ins juristische Spiel zu bringen.
Ein finnischer Staatsbürger, wohnhaft in Finnland, hatte sich dagegen zur Wehr gesetzt, dass er als Eigentümer von Grundstücken in Deutschland im Wege des Lastenausgleichs für die "Gefahrengemeinschaft, nationale Solidarität und Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes" herangezogen werden sollte – nüchtern also: für die sozialstaatliche Schadensregulation nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg.
Der BFH befand aber, dass die "nationale Solidarität" nur ausgaben-, nicht einnahmenseitig zur Begrenzung des Lastenausgleichs diene (BFH, Urt. v. 26.04.1963, Az. III 237/58 U).
1970er: Vorbehalte bleiben, Klebrigkeit kommt
Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) wusste 1978 im Fall eines Studenten, der trotz "Studentenstreiks" nicht aufs Bafög verzichten wollte, immer noch zwischen einer nur imaginierten "Solidarität" unter Studenten und einer "Solidargemeinschaft" der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer zu unterscheiden (Urt. v. 30.03.1978, Az. 5 C 20.76).
Erste Züge ihrer heutigen Klebrigkeit nahm die "Solidarität" aber vor seinen Wehrdienstsenaten an. Wiederholt wurde Soldaten seit den 1970er Jahren vorgehalten, sie müssten berücksichtigen, dass die Bundeswehr die "ihr übertragenen Verteidigungsaufgaben nur dann erfüllen" könne, "wenn die Soldaten in Vertrauen und Solidarität miteinander verbunden sind".
Das mag im Sinn des heutigen Solidaritätsressourcen-Managements ganz richtig sein, hatte aber einen merkwürdigen Zungenschlag.
Denn beweisen sollten die Soldaten dies etwa, indem sie nicht mit den Gattinnen ihrer Mitsoldaten den Geschlechtsverkehr ausübten (u. a. BVerwG, Urt. v. 04.09.1973, Az. II WD 49/72). Die Phrase von der "Solidarität", populär im akademischen und im Arbeitermilieu, sollte hier wohl das ältere Pathos von "Ehre", "Kameradschaft" und "Manneszucht" ablösen.
"Solidarität" oder gesellschaftliche Gemütlichkeit
Während Kurt Eisner (1867–1919), der erste Ministerpräsident des Freistaats Bayern, als Sozialist noch glaubte, "Solidarität" sei ein "stahlhartes Wort", das in der politischen Ökonomie "Liebe, Mitleid und Barmherzigkeit" ablösen könne, scheint es heute windelweich an die Stelle von Rechtsgehorsam und Pflichtbewusstsein zu rücken.
Wie sich diese bloß rhetorische "Solidarität" vermeiden ließe, hat Karl Kraus (1874–1936) für die ähnlich unförmige "Gemütlichkeit" dekliniert:
"Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll, Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung und Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst."
Klare Rechtsgebote, Impfstoff und Infrastruktur: den Reim mache sich jeder selbst.
Rechtsbegriff im Wandel: . In: Legal Tribune Online, 09.05.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44913 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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