Reproduktionsrecht: Als das Reichs­ge­richt die vater­län­di­sche Gebär­mutter ent­deckte

von Martin Rath

11.11.2018

Der Zeitpunkt ist Zufall, der Zeitgeist fügte es verquer zusammen: Einen Tag, bevor am 12. November 1918 in Deutschland das Frauenstimmrecht proklamiert wurde, befasste sich das Reichsgericht mit dem patriotischen Nutzen der Sexualität.

Es waren schockierende Tage für alle, die der deutschnationalen Propaganda glauben wollten, der Krieg sei für das Deutsche Reich noch zu gewinnen: Am 11. November 1918 endeten mit Unterzeichnung der Waffenstillstandsvereinbarung im Wald bei Compiègne die Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs, am 9. November war in Berlin widerwillig die Republik ausgerufen worden, der Kaiser am 10. November ins niederländische Exil desertiert.

Rund 800 Kilometer östlich vom nordfranzösischen Städtchen, am Reichsgericht zu Leipzig, hinterließen derweil die Richter des 6. Zivilsenats im Urteil vom 11. November 1918 (Az. Rep. VI. 242/18) einen denkwürdigen Hinweis zur Frage, wozu der Mensch ihrer Auffassung nach mit Geschlechtswerkzeugen ausgestattet sei.

Zu entscheiden hatte das Reichsgericht über Rechtsfragen, die das Ende einer Ehe betrafen, die nicht lange hatte halten wollen. Seit 1912 waren ein bei Eheschluss 32 Jahre alter Mann und eine 25 Jahre alte Frau verheiratet, für beide war es die zweite Ehe. Bereits seit dem Oktober 1913 lebten sie schon wieder getrennt.

Der Mann hatte zunächst auf Scheidung nach § 1568 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) a.F.  geklagt, da die Frau das Scheitern der Ehe verschuldet habe. Mit diesem Anliegen scheiterte er in erster Instanz. Er betrieb das Verfahren dann in der Berufung vorrangig mit dem Ziel weiter, die Ehe wegen Täuschung durch seine Gattin für nichtig erklären zu lassen, weil sie ihm vor der Heirat verschwiegen habe, dass ihr operativ die Gebärmutter entfernt worden war.

Über das "Wesen" der Ehe

Auch mit diesem Begehren scheiterte der Mann zunächst, doch gab ihm schließlich das Reichsgericht mit Urteil vom 11. November 1918 gegen die Vorinstanzen in vollem Umfang Recht.

Zulässig war die Eheanfechtung nach §§ 1333, 1334 BGB a.F, unter anderem dann, wenn sich der Gatte "bei der Eheschließung … über solche persönliche Eigenschaften des anderen Ehegatten geirrt hat, die ihn bei Kenntniß der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würden".

Worin der zur Anfechtung der Ehe berechtigende Irrtum liegen durfte, war natürlich von Rechts wegen eng zu fassen, weil anderenfalls Klagen aus allen erdenklichen, oberflächlich versachlichten Motiven Tür und Tor offen gewesen wäre. Das Reichsgericht erklärte sich entsprechend zum "Wesen der Ehe" und zu den Gründen, die dem Gesetzgeber des BGB, der Rechtsprechung und juristischen Lehre zur Eheanfechtung plausibel erschienen.

Beiwohnungs- versus Zeugungs- oder Gebärfähigkeit

Das Wesen der Ehe erkannten die Reichsrichter mit Blick in das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 (II. 1, § 1), dessen Sinn durch das BGB nicht dahin sei: "Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung der Kinder." In diesem Axiom liege auch nach der Rechtsauffassung des Jahres 1918 der sittliche Zweck bzw. das Wesen der Ehe – daher sei auch von jeher die "Impotenz" des Mannes als Eheanfechtungsgrund angesehen worden.

Fraglich sei nun, was unter "Impotenz" weiter zu verstehen sei, auch mit Blick darauf, dass hier der auf Nichtigkeit der Ehe verklagten Frau die Gebärfähigkeit fehlte. Denn in der Rechtsprechung der Jahre seit Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900 hatte sich unter Gerichten und Professoren ein wenig die Auffassung verbreitet, bei einer "Impotenz" sei zwischen einer "Beiwohnungsunfähigkeit", also dem Unvermögen, Geschlechtsverkehr zu betreiben, und einer "Zeugungs- (oder Gebär-)unfähigkeit" zu unterscheiden.

Diese Unterscheidung hatte im vorliegenden Fall die Vorinstanzen zu Zweifeln dahin angeregt, dass der Irrtum über die Gebärunfähigkeit nicht zur Eheanfechtung genüge, solange die Gattin zum Geschlechtsverkehr fähig sei.

Ohne Kindererzeugungsabsicht kein Sinn der Ehe?

Das Reichsgericht beharrte indes darauf, dass der Ehezweck primär in der sexuellen Reproduktion liege. Wenngleich der BGB-Gesetzgeber vor Augen gehabt habe, dass die Ehe in zweiter Linie, beispielsweise bei betagten Personen, anderen Interessen dienen könne, sei doch ihr "wahres Wesen" in der "Kindererzeugung" zu sehen: "Es würde also dem sittlichen Wesen der Ehe geradezu widersprechen, wenn lediglich die Fähigkeit, den Geschlechtsakt auszuüben, also einen rein sinnlichen Trieb befriedigen zu können, für ausreichend erachtet würde, um der auf § 1333 BGB  begründeten Klage den Erfolg zu versagen, so daß also die Tatsache der mangelnden Zeugungs- und Gebärfähigkeit völlig außer Betracht bliebe."

Dass der historische Gesetzgeber, auf den sich das Reichsgericht hierbei positiv bezogen hatte, in § 2 der zitierten Vorschrift des Preußischen Allgemeinen Landrechts (1794) formuliert hatte, dass eine gültige Ehe auch "allein"“ zur "wechselseitigen Unterstützung" geschlossen werden durfte, ließ das Gericht mit seiner Fokussierung auf die "Kindererzeugung" ein wenig unter den Tisch fallen.

Das Reichsgericht stützte sein Urteil noch auf zwei weitere Erwägungen ab: So hatte es am 2. Mai 1901 (Az. IV 62/1901) entschieden, dass der Wunsch eines Ehepartners, beim Beischlaf ein Verhütungsmittel zu benutzen, als "Verweigerung des Geschlechtsverkehrs" anzusehen sei und als schwere Verletzung der ehelichen Pflichten die Scheidung der Ehe nach § 1568 BGB a.F.  rechtfertigte.

Diese Fokussierung der Ehe auf die "Kindererzeugung"“ hielt das Reichsgericht 17 Jahre nach seinem Präservativ-Urteil auch deshalb für besonders richtig, "als gerade während der Zeit des gegenwärtigen Weltkriegs die Bedeutung einer richtigen Bevölkerungspolitik immer mehr hervorgetreten ist, und als auch schon gesetzgeberische Arbeiten im Gange sind, die darauf abzielen, jede künstliche Verhinderung der Fortpflanzung mit allen Mitteln des Straf- und Verwaltungsrechts zu bekämpfen".

Dämpfende Wirkung des Frauenstimmrechts

Auch wenn der Frau, die mit Urteil vom 11. November 1918 ihrer Ehe und damit – in elenden Zeiten – auch der familiären Fürsorge beraubt war, diese Idee des Reichsgerichts mit als tragfähiges Argument vorgehalten wurde: Die von den Richtern geäußerte Erwartung, dass der Gesetzgeber nunmehr auf breiter Front die Geschlechtsorgane seiner Bürgerinnen und Bürger in den Dienst einer geburtenförderlichen ("pronatalistischen") Bevölkerungspolitik stellen würde, erfüllte sich einstweilen nicht.

In gewisser Weise trieben die Reichsgerichtsräte sogar mehrfache teleologische Kaffeesatzleserei. Sich auf eine erst noch geplante, sachverhaltsfremde Gesetzgebung zu berufen, um ein Argument für einen nach geltendem Recht zu beurteilenden Gegenstand zu gewinnen, ist für sich genommen schon etwas ungewöhnlich. Darüber übersah das Gericht im Stolz auf sein Anti-Kondom-Urteil aus dem Jahr 1901 die soziale Tatsache, dass Verhütungsmittel bis in die späten 1920er Jahre zu teuer blieben, um sich von einem Verbot einen pronatalistischen Effekt versprechen zu können.

Schließlich dämpfte das im revolutionären Deutschland des Novembers 1918 proklamierte, dann sogleich in den Wahlgesetzen zu den verfassunggebenden Versammlungen des Deutschen Reichs und Preußens verankerte Frauenstimmrecht eine allzu national-utilitaristische Bevölkerungspolitik.

Der welterste Markenkondom-Hersteller Julius Fromm (1883–1945) konnte beispielsweise in Berlin reüssieren, bis seine Geschäfte unter Heinrich Himmler massiv behindert, seine Fabriken arisiert wurden. Sogar der heute stets vorrangig verdächtige Papst erklärte sich erst 1930 scharf gegen Abtreibung und Verhütungsmittel.

Bis 1933 dominierte in Deutschland angesichts der politischen Stimme der Frauen die sozial- gegenüber einer nationaldemografischen Bevölkerungspolitik. Im benachbarten Frankreich hingegen, das erst 1944 das Frauenwahlrecht etablierte, radikalisierte sich nach dem Ersten Weltkrieg die Bevölkerungspolitik – teils aus anderen Gründen – beispielsweise heftiger als östlich des Rheins.

Indes war die Diskussion zur Frage, zu welchem Zweck Menschen über Geschlechtsorgane verfügen, auch in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg mit landestypischer Grundsätzlichkeit geführt worden. Ein Reichsgerichtsrat mochte also eine Meinung dazu haben.

"Gebärstreik" und eine gespaltene Sozialdemokratie

So war, wie der Historiker Malte König in einer vergleichenden Darstellung zur "Geburtenkontrolle, Abtreibung und Empfängnisverhütung in Frankreich und Deutschland, 1870–1940 "  feststellte, beispielsweise die deutsche Sozialdemokratie u. a. anlässlich des sogenannten "Gebärstreiks" von 1913 gespalten: Wollten die einen Kräfte der Arbeiterbewegung durch schiere Nachwuchsmasse zum Sieg verhelfen, sahen andere in der Verknappung hungriger Kindermäuler an sich sowie im verkleinerten Arbeitskräftepotenzial Chancen, das um "proles" geminderte Proletariat sozial vorwärts zu bringen.

Konservative Kritiker der Geburtenkontrolle fürchteten sich seinerzeit in Frankreich vor allem vor den fruchtbaren deutschen Soldatenmüttern, während in Deutschland eine Furcht vor asiatischer und afrikanischer Gebärfreude kultiviert wurde – kaum boshaft zu sagen, dass die seit Thilo Sarrazins Bestseller "Deutschland schafft sich ab" (2010) wieder ausgebrochene deutsche Eugenik- und Demografie-Diskussion auch eine Travestie von Diskursen aus Zeiten von Kaiser Wilhelm II. ist.

Die Auffassung, dass der deutsche Mensch seine Geschlechtswerkzeuge bevorzugt zur Fortpflanzung zu gebrauchen habe – eine Position, der sich das Reichsgericht mit Urteil vom 11. November 1918 durch die Blume anschloss –, hat sich sehr offenkundig nicht durchgesetzt. Von juristischen Beistandsbekundungen an offenen Travestiediskursen wird daher womöglich auch künftig weiter Abstand genommen.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Reproduktionsrecht: . In: Legal Tribune Online, 11.11.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31989 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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