Schlafwandeln und Recht: In geis­tiger Umnach­tung zum Genick­bruch

von Martin Rath

07.07.2024

Das nächtliche Schlafwandeln, die Mondsucht, regt von jeher die künstlerische und philosophische Fantasie an – und beschäftigt auch Juristen in Theorie und Praxis.

Stürze aus großer Höhe gehören heute zu den Begleiterscheinungen des Massentourismus. Meist sind es Übernachtungsgäste, die von einem Balkon zum anderen klettern oder von dort aus sogar in den Swimmingpool ihres Hotels zu springen versuchen.

Die mallorquinische Gemeinde Calvià verhängte beispielsweise im August 2023, wie die britische Boulevardpresse mit der branchentypischen Mischung aus Mitleid und Schadenfreude berichtete, gegen fünf Touristen im Alter von 18 und 19 Jahren Geldbußen in Höhe von umgerechnet über 30.000 Pfund – pro Kopf und unverzüglich, nachdem sie beim Springen von einem Hotelbalkon zum anderen beobachtet worden waren.

Während unter dem Einfluss von Social Media, Alkohol oder anderen Drogen stehende Touristen mit diesem sogenannten "balconing" die Behörden und Hotelbesitzer in Atem halten, haben gerichtsverwertbare Fälle von Somnambulismus mit Schadensfolge echten Seltenheitswert.

Statt heilloser Risikofreude: ein Fall von Somnambulismus?

Das Sozialgericht (SG) Köln entschied beispielsweise mit Urteil vom 21. Juli 2006 zu einem Tatbestand, in dem nächtliches Schlafwandeln zu einem schweren Schaden geführt haben soll (Az. S 18 U 16/06).

Der Kläger, zum Zeitpunkt des Schadensfalls ein junger Mann von Mitte zwanzig, hatte als Mitarbeiter eines in Hürth bei Köln ansässigen Medienunternehmens mit seinen Kollegen zwecks Dreharbeiten auswärts in einem Hotel übernachtet.

Der Hotelinhaber fand ihn am Morgen des 28. Oktober 2004 schwer verletzt vor dem Gebäude. Im Krankenhaus wurde eine Berstungsfraktur des 6. Halswirbelkörpers festgestellt – er hatte sich, rustikal gesprochen, einen Nackenbruch zugezogen.

Aus den polizeilichen Ermittlungen entnahm das Gericht, dass der Mann sich in der Nacht aus dem Fenster seines Hotelzimmers auf ein Vordach begeben, sich von dort rund drei Meter an der Außenwand entlang bewegt hatte und beim Versuch abgestürzt war, am Dachabflussrohr herabzuklettern – ein Fall aus 4,30 Metern Höhe.

Im Zimmer, das er mit einem Kollegen teilte, fanden sich zwar zwei leere Bierkisten für jeweils 20 Flaschen, zugehörige Glasscherben auch im Umfeld des Fensters. Der Alkohol stand aber nicht im Mittelpunkt der Klage.

Schlafwandeln in der Fremde gefährlicher als zu Hause

Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnte Entschädigungszahlungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil aus ihrer Sicht das Unfallereignis in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stand und die Übernachtungsgelegenheit auch keine besondere Gefahr in sich barg.

Dagegen führte der Kläger an, dass die Hotelunterbringung für ihn sehr wohl ein Risiko dargestellt habe, das ihm an seinem gewöhnlichen Wohn- und Beschäftigungsort nicht begegne. Denn das Krankenhaus hatte in den Entlassungsbericht aufgenommen, dass der junge Mann wahrscheinlich versucht habe, als Schlafwandler die Dachrinne herunterzuklettern.

Für einen Schlafwandler auf Dienstreise habe zu gelten, argumentierte der Kläger, dass er an dem unvertrauten Ort in eine besondere Gefahr gerate. Außerdem habe die Berufsgenossenschaft nicht berücksichtigt, dass in der Nacht des Unfalls Vollmond gewesen sei – angeblich ein zusätzliches Risiko für somnambule Nachtwanderer.

Das Sozialgericht Köln sah jedoch keinen geeigneten Nachweis, dass ein Fall von Somnambulismus vorlag. Und selbst dann, wenn er erbracht werden könnte, würde jede für einen Schlafwandler fremde Übernachtungsgelegenheit zur Gefahrenquelle – sodass der Ursachenschwerpunkt eher in seiner Person als in der konkreten Örtlichkeit zu sehen sei.

Der Kläger blieb auch vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen und dem Bundessozialgericht (BSG) erfolglos (BSG, Beschl. v. 28.07.2008, Az. B 2 U 242/07 B).

Mit Biberdrüsen-Sekret und Opium zu behandeln

An einer Regenrinne herabzuklettern, ist schon im wachen und nüchternen Zustand keine leichte Übung. Trotzdem ist es nicht völlig abwegig, Nachtwandlern sogar relativ schwierige Handlungen zuzutrauen.

Im Anschluss an die medizinische Lehre definierte etwa das Landgericht (LG) Paderborn mit Urteil vom 10. September 1992 (Az. 5 S 165/92) das somnambule Nachtwandern als "eine Form des Dämmerzustandes, in welchem der Betroffene in einem schlafähnlichen Zustand ähnlich handelt wie Wachende nachts das Bett verlassen, schlafend umhergehend und durchaus komplizierte Handlungen verrichten können, die ihnen beim Erwachen nicht mehr bewußt sind. Sie handeln ohne Bewußtsein."

Der Verdacht, dass diese Lehrmeinung unter Ärzten nicht nur auf empirischer Kenntnis, sondern auch auf medizinhistorischer Kolportage beruhen könnte, ist zulässig.
Der "Große Brockhaus" hielt etwa schon im Jahr 1903 zum Stichwort "Nachtwandeln" fest, dass es sich um einen schlafähnlichen Zustand handele, "bei welchem die Fähigkeit komplizierte Bewegungen oder Handlungen auszuführen besteht, trotz Aufhebung des Selbstbewußtseins".

Damit nicht genug.

Schon 1739 findet sich in der damals umfangreichsten Enzyklopädie Europas – Zedlers "Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste" – folgender Eintrag in ganz wunderbarer, hier aber nur auszugsweise zitierter Umständlichkeit:
"Mondsüchtige, Nacht-Gänger, Nacht-Wanderer, Lunaticus, Noctambulo, Noctambulus, oder besser Somnambulus, dieweil doch auch gesunde Leute, und die mit dieser Kranckheit nicht beladen sind, herum gehen können; werden diejenigen Leute genennet, welche in Gewohnheit haben, des Nachts aus dem Bette zu steigen, im Schlaffe herum zu gehen, und ihre gewöhnliche Arbeit schlaffende zu verrichten gewohnt sind, als wacheten sie."

Um die "Mondsüchtigen" vom Drang zu befreien, schlafend "gewöhnliche Arbeit", also relativ komplexe Handlungen zu verrichten, schlugen die barocken Gelehrten die medikamentöse Behandlung unter anderem mit "Bibergeil", dem Sekret aus Biberdrüsen, Kardamon und Kamille vor – vorzugsweise in Alkohol gelöst. Alternativ kam die bis ins frühe 20. Jahrhundert weit verbreitete Standard-Opiumtinktur zum Einsatz.

Somnambules Verhalten fasziniert Philosophen und Juristen

Wissenschaftlich nachgewiesen ist heute zwar, dass es keinen Zusammenhang zwischen Mondphasen und Schlafwandeln gibt. Mit Alkohol und Opium rückt die medizinische Zunft dem gar nicht seltenen Phänomen inzwischen auch nicht mehr zu Leibe.

Philosophen und Juristen befassten sich mit Somnambulismus in historischen Diskursen kaum weniger als die Ärzte. Dass Schlafwandler relativ komplexe Bewegungen leisten, ohne ein waches Bewusstsein zu zeigen, dient den Gelehrten seit Platon (ca. 428–347 v. Chr.) dazu, ihre jeweiligen Theorien zu Geist und Handlungsbewusstsein zu testen.

Während es beim alten Griechen und vielen Nachfolgern – vermutlich bis hin zu Heilpraktikern und Waldorflehrern unserer Tage – auf die grobe Idee hinauslief, dass im Schlaf der "vernünftigen Seele" die "niederen" seelischen Instanzen die Kontrolle übernähmen, finden sich in der moderneren Lehre auch gewagtere Spekulationen.

Der französische Schriftsteller, Philosoph und Unternehmer François-Marie Arouet (1694–1778), bekannt unter seinem Künstlernamen Voltaire, zog etwa aus der Deutung, dass die nachtwandlerischen Handlungen auf einem Automatismus beruhten, den scharfen Witz, damit stehe auch die Willensfreiheit wacher Menschen in Frage.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) wird eine Abneigung gegen den Somnambulismus zugeschrieben, er sei die Negation des "wachsten Bewußtseyns", also des philosophischen Denkens. Sein philosophischer Antipode Arthur Schopenhauer (1788–1860) sah im Nachtwandeln, als Ergebnis einer bloßen Hirnfunktion, eine Bestätigung seiner eigenwilligen Konzeption eines blinden Willens, dem Bewegungsgrund alles Lebendigen.

Dort, wo sich Philosophen und Juristen gern zärtlich "gute Nacht" sagen, also in zivil- und strafrechtlichen Theoriediskussionen, wird bis heute gelegentlich das Problem des Somnambulismus aufgegriffen.
Examensrelevant werden kann beispielsweise die Frage, ob und wie sich ein Schlafwandler, der weiß, dass er im somnambulen Zustand gewalttätig werden kann, strafbar macht, wenn er einen Übernachtungsgast, der davon nichts weiß, körperlich verletzt. Oder: Wie ist es zu beurteilen, wenn der "Mondsüchtige" unbewusst den Eindruck weckt, ein Rechtsgeschäft tätigen zu wollen?

Für Lehrbuchfälle reicht echte somnambule Praxis so gut wie nie

Selbst wenn manchmal über den sonoren Vortragsstil von Notaren geklagt wird, finden sich keine Belege dafür, dass jemals ein Rechtsgeschäft im Zustand des Schlafwandelns getätigt wurde. Lehrbuchprobleme sind eben doch oft konstruiert.

Von anderen psychischen Störungen isolierbares Handeln von Schlafwandlern, das strafrechtlich zu würdigen ist, wird immerhin, wenn auch selten berichtet.

Unter dem Titel "Sleepwalking Violence: A Sleep Disorder, a Legal Dilemma, and a Psychological Challenge" berichtete die amerikanische Nervenärztin Rosalind Cartwright (1922–2021) von solchen raren Fällen. Nach Angaben von Cartwright, einer in den USA offenbar recht bekannten Schlaf- und Traumforscherin, wurde erstmals im Jahr 1878 ein somnambules Tötungsdelikt aktenkundig, als ein 28-jähriger Vater nachts sein 18 Monate altes Kind erschlug und freigesprochen wurde, weil er glaubhaft machen konnte, im umnächtigt-bewusstseinslosen Zustand ein wildes Tier vor sich gewähnt zu haben.

1931 sei ein Feuerwehrmann aus schlafwandlerischer Trance erwacht, während er mit einer Schaufel auf den Kopf seiner Gattin einschlug – bei Bewusstsein dann völlig fassungslos, dass er sie ohne erkennbares Motiv getötet hatte.

Im Gegensatz zu solchen anekdotischen Überlieferungen konnte Cartwright eine Handvoll Fälle beschreiben, in denen empirisch besser gesicherte somnambule Verantwortungslosigkeit vorlag – belegt unter anderem durch vorangegangene Schlafstörungen, fehlende Ansprechbarkeit während Episoden von Schlafwandel, seelischem Durcheinander beim Erwachen und einer persönlichen oder familiären Vorgeschichte von Somnambulie.

Privatisierung somnambuler Kosten und Gefahren

Dass ein isoliert somnambules Verhalten selten justizbekannt wird, mag damit zu tun haben, dass es schwer glaubhaft zu machen ist. Und weil diese besondere psychische Bewusstseinsstörung regelmäßig von einem versicherungsvertraglichen Haftungsausschluss betroffen ist, gibt es vor Gericht meist auch nur noch wenig zu streiten (vgl. Oberlandesgericht [OLG] Hamm, Urt. v. 14.05.2008, Az. 20 U 148/07; OLG Bamberg, Beschl. v. 08.12.2010, Az. 1 U 120/10).

Immerhin, aus der Epoche des nach Amtsende beliebtesten Bundeskanzlers aller Zeiten, Helmut Schmidt (1918–2015), ist ein Fall überliefert, in dem ein Zeitsoldat zwei Mal beim Schlafwandeln in Kasernengebäuden auffiel. Ein Truppenarzt schlug noch vor, die Gefahr somnambuler Zustände, die in Belastungssituationen aufgetreten waren, durch Entlastung des Soldaten und Vorsorge im Dienst auszukurieren.

Es setzte sich aber das Heeresamt mit der Auffassung durch, dass mit diesem Maß an Dienstunfähigkeit kein Staat zu machen sei: "Ein Soldat dieses Dienstgrades müsse auch während der Nacht jederzeit zur Dienstleistung herangezogen werden können und in der Lage sein, nach dem Aufwecken Befehle voll orientiert entgegenzunehmen und auszuführen." Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte mit Urteil vom 21. April 1982 (Az. 6 C 71.81) die Entlassung des Schlafwandlers aus dem Dienst.

Die Frage, ob dies auch für jene gilt, die Befehle erteilen, steht auf einem anderen Blatt.

Hinweise: "Der gewalttätige Schlafwandler" findet sich als Übungsfall des Augsburger Strafrechtslehrers Johannes Kaspar in der "Juristischen Ausbildung" 2006, 855–859. Zur philosophischen Begriffsgeschichte gibt das Lemma "Somnambulismus" im "Historischen Wörterbuch der Philosophie" einen guten Überblick. 

Zitiervorschlag

Schlafwandeln und Recht: . In: Legal Tribune Online, 07.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54940 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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