Buch "Die Zauberlehrlinge": Gegen den Mythos vom Rechts­bruch an der Grenze

von Dr. Christian Rath

27.04.2019

Begeht die Regierung seit 2015 Rechtsbruch, weil sie Flüchtlinge nicht an der Grenze zurückweist? Stephan Detjen und Max Steinbeis haben sich mit dieser gefährlichen These beschäftigt. Eine hilfreiche Intervention, meint Christian Rath.

Das Buch kommt erstaunlich spät. Der Sommer 2015 ist lange vorbei, die Flüchtlingszahlen haben sich wieder normalisiert. Doch der politische Diskurs rechts außen ist immer noch von diesen Monaten geprägt. Dass an der deutschen Grenze das Recht gebrochen wurde und noch wird, gilt in diesen Kreisen als Selbstverständlichkeit, die nicht mehr begründet werden muss.

Stephan Detjen (Chefkorrespondent des Deutschlandradios) und Maximilian Steinbeis (Herausgeber des Verfassungsblogs) finden, dass der politische und juristische Mainstream diese Rechtsbruch-These viel zu lange ignoriert hat. Teilweise habe er sie sogar selbst befeuert, daher der Titel mit den "Zauberlehrlingen". Diese Auseinandersetzung wollen sie nun nachholen oder zumindest einfordern.

Im Kern geht es um die Frage, ob Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden müssen, weil sie über einen sicheren Drittstaat (zum Beispiel Österreich) einreisen. Die Befürworter dieser These berufen sich auf § 18 Asylgesetz, wo genau dies vorgesehen ist. Sie gehen davon aus, dass die Schließung der deutschen Grenzen zu einem Dominoeffekt geführt hätte: auch alle anderen EU-Staaten hätten dann sehr bald ihre Grenzen geschlossen, statt Flüchtlinge nach Deutschland durchzuwinken. Dieter Romann, Chef der Bundespolizei, wollte Mitte September 2015 just so verfahren, doch der damalige Innenminister Thomas de Maizière (CDU) entschied, dass Asylantragsteller weiter nach Deutschland einreisen können.

Dies ist der Ursprung der Rechtsbruch-These. Der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau hat sie im Dezember 2015 in der Zeitschrift Cicero zum Begriff von der "Herrschaft des Unrechts" verdichtet. Eine Formulierung, die im Februar 2016 vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) aufgegriffen und popularisiert wurde. Auch Ex-Verfassungsrichter wie Udo Di Fabio und Hans-Jürgen Papier stützten die These vom Unrecht an der Grenze. Seitdem wird der Topos auf der politischen Rechten intensiv gepflegt und weiter befeuert. Selten wurde die Legitimität von Regierungshandeln, ja der Regierung überhaupt, so grundsätzlich in Frage gestellt.

BMI-Hausjuristen gegen Sicherheitsexperten

Stark ist, wie Detjen/Steinbeis den Entscheidungsprozess im Bundesinnenministerium rekonstruieren. Bisher hatte der Journalist Robin Alexander in seinem Buch "Die Getriebenen" die genaueste Schilderung geliefert. Alexander hatte sich allerdings kaum für Rechtsfragen interessiert, während Detjen und Steinbeis, die beide Juristen sind, gerade auch rechtliche Argumente darstellen. Den Sicherheitsexperten um Dieter Romann standen damals die Juristen Hans-Heinrich von Knobloch (Leiter der BMI-Abteilung V, Staats-, Verfassungs- und Verwaltungsrecht) und Christian Klos (Leiter des Referats für Ausländerrecht) gegenüber.

Klos hatte auf die Dublin-III-Verordnung der EU hingewiesen, die eine Zurückweisung von Asylantragstellern an der Grenze verbiete. Letztlich folgte de Maizière den beiden Hausjuristen.

Überzeugend auch wie Detjen/Steinbeis die Bedeutung der Rechtsbruch-These für die AfD und ihr Milieu herausarbeiten. Für die AfD stand bei ihrer Gründung 2013 ja bereits ein anderer vermeintlicher Rechtsbruch im Mittelpunkt: Die Euro-Rettung durch die Europäische Zentralbank unter vermeintlichem Bruch des Verbots monetärer Haushaltsfinanzierung.

Das Thema war im Sommer 2015 allerdings nicht mehr sehr prominent, die AfD stand in Umfragen nur noch bei drei Prozent. Ihr neuer Aufschwung begann, nachdem sie die massenhafte Flüchtlingszuwanderung als Folge eines neuen Rechtsbruchs, nun beim Asylgesetz, thematisieren konnte. Die Rechtsbruch-These ermöglichte auch das Zusammengehen von offen rassistischen Positionen mit national-bürgerlichen Kreisen, die zu verfassungswidrigen Positionen eigentlich Abstand halten wollen. Doch weil es um die Verteidigung des deutschen Rechts ging und man sich dabei auf ehemalige Verfassungsrichter berufen konnte, sah man sich vor Stigmatisierung hinreichend geschützt.

Seehofer hat es gar nicht so gemeint

Als unglücklicher Zauberlehrling wird bei Detjen/Steinbeis vor allem Horst Seehofer identifiziert. Seehofer habe Anfang 2016 mit seinem Interview zur angeblichen "Herrschaft des Unrechts" nur Aufmerksamkeit für seine kurz darauf geplante Aschermittwoch-Rede in Passau wecken wollen. Dort sollte dann alles in andere Bahnen gelenkt werden, enthüllen jetzt Detjen und Steinbeis. Allerdings fand diese Rede dann gar nicht statt. Der politische Aschermittwoch 2016 wurde wegen des Bahn-Unglücks von Bad Aibling kurzfristig abgesagt.

Das Bild vom ungeschickten Zauberlehrling Seehofer wird allerdings dadurch relativiert, dass er im Sommer 2018 mit seinen Plänen für Zurückweisungen an der Grenze gezielt den alten Topos aufwärmte, Angela Merkel provozierte und die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU fast zum Platzen brachte. Bei Detjen/Steinbeis wird das allerdings nur am Rande erwähnt. Im Sommer 2018 war das Buch wohl schon weitgehend geschrieben.

Der Bundesregierung wird von Detjen/Steinbeis vor allem vorgeworfen, dass sie die Debatte laufen ließ und nicht erkannte, welche Dynamik die Rechtsbruch-These beim Aufstieg der AfD entwickeln würde.

Trotz vielfacher Nachfragen hatte die Regierung nicht erklärt, warum § 18 Asylgesetz unangewandt blieb. Vor allem bekannte sich die Regierung damals nicht zum Vorrang des Europarechts, um sich spätere Zurückweisungen an der Grenze doch offen zu halten. De Maizière sagte in einem Interview Ende 2015 sogar, der Verzicht auf Zurückweisungen sei "bisher" eine "politische" Entscheidung gewesen. Damit hat er die Wahrnehmung, die Regierung kümmere sich nicht um die Rechtslage geradezu befeuert.

Kein Contra aus Karlsruhe

Doch wer hätte sonst die Diskussion entschärfen können? Die größte Autorität hierzu hätte natürlich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gehabt. Das kam aber zunächst nicht zum Zuge, weil Bayern im Frühjahr 2016 dann doch auf die angedrohte Verfassungsklage verzichtete. 2018 legte die AfD eine Organklage ein, die das BVerfG aber als unzulässig verwarf – ohne die Chance zu erkennen, hier zumindest per obiter dictum der Rechtsbruch-These den Stecker zu ziehen. Auch auf diese Entscheidung aus dem Dezember 2018 konnten Detjen/Steinbeis nur noch am Rande eingehen.

Lässt man mit Detjen/Steinbeis die dreieinhalbjährige Diskussion Revue passieren, fällt auf, welch zentrale Rolle für die Diskussion die Ex-Verfassungsrichter Papier und Di Fabio einnahmen. Ohne diese respektablen Kronzeugen hätte die Rechtsbruch-These nicht diese breite Wirkung erzielen können. Umso erstaunlicher ist es, dass kein anderer ausgeschiedener Verfassungsrichter Contra gab. Auch aus dem Kreis der Staatsrechtslehrer war keine organisierte Gegenposition zu vernehmen.

Offenbar ließ man lieber die Bundesregierung in die Nähe einer Diktatur rücken, als zu erläutern, dass EU-Recht Vorrang hat vor deutschem Recht.

Rolle des Aufklärers übernahm ein Migrationsrechtler

Die unermüdliche Verteidigung und Erläuterung der Rechtslage übernahm dann vor allem der Europa- und Migrationsrechtler Daniel Thym. Er konnte die Rolle als Sprecher seiner Zunft deshalb so überzeugend spielen, weil er als eher konservativer Rechtsprofessor auch in jenem Lager hoch angesehen ist. Erst seine Interventionen machten den tieferen Sinn der Einreisegestattung deutlich: In Deutschland sollte geprüft werden, welcher Staat nach den Dublin-Regeln für das Asylverfahren zuständig ist. Eine Zurückweisung an der Grenze nach Österreich war eben nicht sinnvoll, wenn Italien oder Ungarn das Asylverfahren übernehmen müssen.

Wer eine übersichtliche Widerlegung des Rechtsbruch-Mythos sucht, ist mit den Beiträgen von Daniel Thym, etwa im Verfassungsblog besser bedient als mit dem Buch von Detjen/Steinbeis, das eher die Diskursgeschichte nachzeichnet. Auch wenn Detjen/Steinbeis also auf eine gutachtenartige juristische Argumentation verzichten, ist das Buch doch vor allem für Juristen geschrieben. Die interessante, aber oft anekdotenhafte Darstellung von Diskussionen in der Staatsrechtslehrer-Szene dürfte für Ärzte und Bäcker nur von begrenztem Wert sein.

Stephan Detjen und Max Steinbeis: "Die Zauberlehrlinge", Der Streit um die Flüchtlingspolitik und der Mythos vom Rechtsbruch, Klett-Cotta, 2019, 263 Seiten, ISBN 978-3608964301, 18 Euro

Zitiervorschlag

Buch "Die Zauberlehrlinge": . In: Legal Tribune Online, 27.04.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35095 (abgerufen am: 16.11.2024 )

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