Gelassenheit oder der Ausschluss von Gefühlen gelten als juristisches Ideal. Zugleich spielt das "Rechtsgefühl" eine irrlichterne Rolle in der Begründung und Anwendung von Gesetzen und Entscheidungen – ein Blick auf ein zeitloses Thema.
Zuletzt brachte Herbert Reul (1951–), der Innenminister (CDU) des Landes Nordrhein-Westfalen, die Gefühle für Juristen und von Juristen in Wallung. Es war die traditionell seiner Partei verbundene Rheinische Post, die den Minister 2018 mit den Worten zitierte:
"Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut. Aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen."
Reuls Einlassung wurde aus einer ganzen Anzahl von Gründen als wenig glücklich wahrgenommen. Er selbst wollte sie als Kritik am Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen verstanden wissen, das zur Rückholung des rechtswidrig nach Tunesien abgeschobenen sogenannten Gefährders Sami A. entschieden hatte.
Aus Sicht der politischen Öffentlichkeit war die Ministeräußerung heikel, weil eine staatliche Entscheidung, die zugunsten eines Ausländers ergeht, ohnehin gegen die fremdenfeindliche Grundhaltung zu verteidigen ist, die sich unter rund einem Drittel aller Deutschen nachweisen lässt. Reul musste sich daher den Vorwurf gefallen lassen, in einem laufenden Verfahren mit den Wölfen zu heulen.
Hinzu kam, dass sich sein Appell an ein "Rechtsempfinden", vor dem sich Richter – statt ausschließlich vor Recht und Gesetz – zu verantworten hätten, die vom Minister bekundete Wertschätzung für die "Unabhängigkeit von Gerichten" eher in Zweifel stellte denn zu stärken geeignet war.
"Rechtsempfinden" – Was für ein Gefühl soll das sein?
Ein Übriges tat noch die semantische Nähe des von Reul postulierten "Rechtsempfindens" mit dem historischen Rechtsbegriff des "Volksempfindens". Der nationalsozialistische Gesetzgeber hatte es bekanntlich mit der sogenannten Analogienovelle dem Strafrichter anheimgestellt, Angeklagte nach dem "Grundgedanken eines Strafgesetzes" zu verurteilen, wenn sein Handeln "nach gesundem Volksempfinden Bestrafung" verdiente. Noch bis 1953 war zudem u.a. nach § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zu prüfen, ob der Zweck einer Nötigung "dem gesunden Volksempfinden widerspricht".
Im Zusammenhang mit der Begründung richterlicher Entscheidungen vom "Empfinden" zu sprechen, war damit jedenfalls ein rhetorischer Fehlgriff erster Güte – ein systematischer Vergleich etwa mit der bekannten Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger (1932–2018) steht leider noch aus.
Der Blick in die wissenschaftliche Literatur wie in Beispiele der Rechtsprechung zeigt jedoch, dass Reul gute Chancen gehabt hätte, sich darauf hinauszureden, ein ungeklärtes gesellschaftliches Problem thematisieren zu wollen – jenes der Funktion von Gefühlen für das Recht im Allgemeinen und des Rechtsgefühls im Besonderen.
Unter dem Titel "Soziologie des Rechtsgefühls" wies der in Bielefeld lehrende Soziologe Rainer Schützeichel bereits 2014/16 auf die Ambivalenzen und Funktionen des von Reul so grobschlächtig in die Öffentlichkeit getragenen "Rechtsgefühls" hin.
Das Rechtsgefühl, wo kommt es her, wo führt es hin? In dieser Frage liegt eine historisch bedeutende Distinktion.
Schützeichel führt beispielhaft den Tübinger Statistik-Professor Gustav von Rümelin (1815–1889) an, der im Jahr 1871 das Rechtsgefühl als Voraussetzung postulierte. Rümelin schloss sich dem im 19. Jahrhundert virulenten Gedanke an, dass ein " ursprünglich gegebene(s) rechtliche(s) Empfinden und rechtliche(s) Bewusstsein von Gruppen und Gemeinschaften" die "Grundlage des Rechts und der Rechtsordnung" seien – das Rechtsgefühl erscheint hier also aus der Hennenperspektive.
Im Gegensatz dazu steht von jeher die "Ei"-Perspektive, die von Schützeichel mit den Worten des berühmten Rechtsgelehrten Rudolf von Jhering (1818–1892) angeführt wird: "Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl."
Je nach Positionierung mochten "Rechtsgefühl" oder – thematisch sektorale – Rechtsgefühle nach Schützeichel eine "rechtskreative Funktion" haben, also als Rechtquelle dienen oder selbst als "Rechtsnorm oder Rechtskorrektiv" dienen, vielleicht sogar als "Rechtsdurchsetzungsinstanz" gleichsam den Justizapparat durchatmen. Oder – um sich Jhering zu nähern – "als Judiz bzw. als rechtliche Urteilskraft" zur Reflexion oder der Vorbereitung des richterlichen Urteils wirken, um etwa als Bündel bildungsbürgerlicher Wertvorstellungen und Kenntnisse in der Richtersoziologie beobachtet zu werden.
Gerichte haben irrlichterne Vorstellungen vom "Rechtsgefühl"
Indem sich die Rechtssoziologie bisher zu sehr der von Juristen gepflegten Vorstellung vom Recht als eines Unternehmens bedient habe, Gefühle seien als Motiv richterlichen Handelns auszuklammern, sei hier ein durchaus noch zu erschließendes Forschungsfeld zu finden, das bisher nur "mit 'spitzen Fingern‘ angefasst" worden sei, erklärt der Bielefelder Soziologe.
Er scheint Recht damit zu haben. Schon der Blick auf ein "Rechtsgefühl", auf das gerichtliche Entscheidungen explizit Bezug nehmen – von spezifischen Gefühlen "wie Scham, Ekel, Zorn, Wut etc." (Schützeichel) also noch ganz abgesehen – zeigt ein weites Feld, das soziologisch bestellt sein will.
Unter mehreren hundert Entscheidungen, die eine handelsübliche Sammlung zum Schlagwort "Rechtsgefühl" auswirft, finden sich sehr unterschiedliche, in der Summe dann fast irrlichtern wirkende Verständnisse des Konzepts "Rechtsgefühl".
Die konzeptionelle Bandbreite ist beträchtlich. In einem Urteil vom 10. Mai 1968 (Az. 4 StR 16/68) wird etwa ein möglicherweise "übersteigertes Rechtsgefühl" des Angeklagten – ein 19-jähriger Jäger hatte im Wald einen ihm unbekannten Bergmann als mutmaßlichen Wilderer erschossen – vom Bundesgerichtshof (BGH) problematisiert. Die kognitive und/oder emotionale Verarbeitung dessen, was einem jungen Mann jagd- und strafrechtlich objektiv zusteht, wird hier von den beteiligten Richtern in Frage gestellt – offenbar mit Blick darauf, ob ein Rechtsgefühl des Angeklagten ein charakterlicher Malus sein kann.
Das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) gibt hingegen zwei Beispiele für entscheidungs-, ja sogar rechtsbegründende Dimensionen des Rechtsgefühls.
Im Beschluss vom 4. August 2003 (1 St RR 88/03) griffen die Richter in der Frage, ob eine Strafaussetzung zur Bewährung in Betracht zu ziehen war, darauf zurück, ob es "auf völliges Unverständnis der Bevölkerung stoßen und deren Rechtsgefühl und Rechtstreue ernstlich beeinträchtig(en)" würde, eine wegen tödlicher Trunkenheitsfahrt Angeklagte nicht ins Gefängnis zu bringen.
Während sich diese Erwägung auch außerhalb der bayerischen Gerichtssprengel findet, ist ein rechtsquellenähnlicher Status des "Rechtsgefühls" wie im Beschluss des BayObLG vom 12. März 1993 (Az. 3 Z BR 2/93) selten: Dass nur ein Mann und eine Frau die Ehe eingehen könnten, stand für die bayerischen Richter wie folgt fest: "Dieser 'Ordnungskern' des Instituts der Ehe ist für das allgemeine Rechtsgefühl und Rechtsbewußtsein unantastbar (…) und keinem Wandel unterworfen. Dies ergibt sich auch aus Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 1 GG, hinter dem die Absicht steht, das Überleben der Gesellschaft zu sichern (…)."
Das Rechtsgefühl findet sich, um die Anrechnung von Entschädigungsleistungen rassisch Verfolgter zu stützen (BGH, Urt. v. 23.06.1965, Az. IV ZR 179/64) – was, 20 Jahre nach dem Kriegsende, ungeachtet des Kreises derer, die dieses Gefühl in ihren entbräunten Seelen produzierten, kein Stirnrunzeln verursachte – oder es wird eine Belastung des Rechtsgefühls befürchtet, sollte Günter Wallraffs (1942–) Enthüllungsbuch über die "Bild"-Zeitung zu sehr zensiert werden (BGH, Urt. v. 20.01.1981, Az. VI ZR 163/79).
Herbert Reul "auslegen" und die Extreme stutzen?
Juristische Standardphrasen, etwa im Zusammenhang mit dem "Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden" sind in unserer kleinen Auswahl noch gar nicht berücksichtigt.
Jedoch zeigt sie bereits, dass selbst Richter nicht ganz gefühlsecht urteilen – man kann sich nie sicher sein, worauf sie Bezug nehmen, wenn sie vom "Rechtsgefühl" sprechen. Orientierung könnte daher – wider anfänglichem Erwarten – Herbert Reul geben, der in seinem Statement zur Rechtssache Sami A. auch äußerte: "Wenn die Bürger Gerichtsentscheidungen nicht mehr verstehen, ist das Wasser auf die Mühlen der Extremen."
Hier sprach der Mann mit einem Sachverstand, der über den juristischen hinausgeht: Im Zivilleben war Reul Studienrat mit der Fachkombination Sozial- und Erziehungswissenschaft.
Vielleicht will nicht der Richter dem Volk, sondern das Volk dem Richter angepasst werden.
Für das angelsächsische Recht gibt es z.B. das Werk des britischen Rechtsgelehrten William Blackstone (1723–1780), das – so jedenfalls ein starker Mythos – so populär war, dass jeder englische Rosenzüchter auf dem platten Lande und jeder andere, der sich in öffentliche Angelegenheiten einmischte, seinen juristischen Schrebergartenhorizont erst mit Hilfe der "Commentaries on the Laws of England" zu einer profunden, intellektuell anschlussfähigen Allgemeinbildung ausbauen musste.
Man mag den Pädagogen Reul also vielleicht dahin verstehen, dass er sich für jeden, der in politisch-juristischen Diskursen mitmischen möchte, ein zumindest autodidaktisch ausgereiftes Verständnis des Rechts wünscht – angeleitet etwa durch Bücher, wie sie in Deutschland z.B. von Georg Lewinsohn (1880–1943) mit dem "Neuen Handbuch des Deutschen Rechts", von Uwe Wesel (1933–) mit "Fast alles, was Recht ist" oder allenthalben von Thomas Fischer (1953–) – vorgelegt wurden.
Öffentliche Auseinandersetzungen, die von "Commentaries on the Laws of Germany" geprägt sind, würden dann ein relevantes "Rechtsgefühl" widerspiegeln – und auch Politiker weniger oft die Gefühle von Juristen verletzen.
Rechtssoziologie: . In: Legal Tribune Online, 19.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35459 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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