Warum steht das Wort "gerecht" so selten in Gerichtsentscheidungen, und wie definieren Juristen eigentlich, was ein Gefährder ist? Mit diesen und ähnlichen Fragen beschäftigt sich die Rechtslinguistik. Ein Gespräch mit Friedemann Vogel.
Herr Professor Vogel, Sie untersuchen unter anderem, welche Ausdrücke wie oft in juristischen Fachtexten vorkommen. Was ist denn das Wort, das Juristen am meisten benutzen?
Prof. Dr. Friedemann Vogel: Das ist gar nicht so leicht zu sagen, denn das hängt davon ab, was man unter einem "juristischen Wort" versteht. Die Fachsprache des Rechts teilt viele Ausdrücke mit der Gemeinsprache, aber die Wörter haben dann meist eine spezifische, institutionalisierte Fachbedeutung. "Diebstahl", "Gewalt" oder auch der Unterschied zwischen "müssen" und "sollen" sind typische Beispiele. Juristische Laien verfügen nicht über das Sprach- und Texttraining, um Fach- und Alltagsbedeutung unterscheiden zu können, das Juristen im Studium durchlaufen.
Wir versuchen, genauer hinzuschauen und mit computergestützten Verfahren den Sprachgebrauch im Recht und seine Entwicklung über die Zeit hinweg zu erfassen. So können wir nachverfolgen, dass etwa "Frauen" seit den 1980er Jahren immer häufiger thematisiert werden, übrigens doppelt so häufig in Entscheidungstexten als in der juristischen Aufsatzliteratur. Die Wörter "gerecht" und "Gerechtigkeit" werden seit den 1980er Jahren dagegen immer seltener im Rechtsdiskurs verwendet.
Aber doch sicher nicht, weil Gerechtigkeit keine Rolle mehr im Recht spielt?
In Gerichtsentscheidungen kommen die Ausdrücke tatsächlich kaum vor, und wenn, dann eher am Ende des Textes und als rhetorischer Schlusspunkt. In juristischen Fachaufsätzen werden sie noch etwas häufiger verwendet.
Meine Erklärung ist, dass "Gerechtigkeit" als Denkfigur im Alltag zwar eine wichtige Rolle spielt, in der juristischen Praxis aber durch die methodengeleitete, juristische Textarbeit und Argumentation im Verfahren eingelöst werden muss. Etwas zugespitzter formuliert: Über "Gerechtigkeit" können Politiker Sonntagsreden halten, vor Gericht geht es um den konkreten Sachverhalt und seine dogmatische Einordnung.
200.000 Stichworte aus 380.000 Texten
Welche Datenbasis nutzen Sie für Ihre Untersuchungen?
Seit 2012 haben wir ein "Juristisches Referenzkorpus", kurz JuReko, aufgebaut, das etwa 380.000 digital aufbereitete Texte aus Rechtsprechung, Gesetzgebung und Rechtswissenschaft von den 1980er Jahren bis 2015 umfasst.
Auf dieser Basis haben wir die 200.000 meistgebrauchten Substantive, Verben und Adjektive ermittelt und zu jedem dieser Wörter ein sehr umfangreiches Gebrauchsprofil zusammengestellt. So können wir sagen, welches Wort wie oft von welchem Autor in welchem Medium an welcher Stelle im Text und mit welchen anderen Wörtern gemeinsam verwendet wird. Die Ergebnisse dieser Sprachinventur stellen wir im Computer Assisted Legal Linguistics Laboratory, kurz Cal²Lab, für alle Interessierten frei zur Verfügung.
Und welche Erkenntnisse wollen Sie aus den Daten gewinnen?
Zunächst verfolgen wir als Rechtslinguisten natürlich ein originär sprachwissenschaftliches Erkenntnisinteresse. Also: Woraus setzt sich die juristische Fachsprache zusammen, welche Wörter, Phrasen, Texttypen gibt es und wie werden sie in verschiedenen Bereichen verwendet? Welche Strukturen gibt es in der Rechtssprache und was unterscheidet sie von der Gemeinsprache?
Aber wir interessieren uns auch für die Rechtsarbeit als Textarbeit, also dafür, wie Juristen mit Texten umgehen und welche Folgen das für die Gesellschaft hat. Zum Beispiel: Welche besonderen Verfahren der Bedeutungsgenese gibt es im Recht? Bedeutung ist ja nicht im Gesetzestext "enthalten", sondern wird ihm durch institutionalisierte und zuweilen auch nicht-institutionalisierte Praktiken zugeschrieben. Wie läuft das ab und welche Sekundärtexte, also etwa andere Normtexte, Gesetzeskommentare, Texte aus früherer Rechtsprechung, Gutachten oder auch der Duden, werden dazu herangezogen?
Wir untersuchen, könnte man mit Wittgenstein sagen, die Sprachspiele unter Juristen und zwischen Juristen und Nicht-Juristen.
"Deutungsarbeit hat mit Macht und Gewalt zu tun"
Was meinen Sie mit "Sprachspiele"?
Ja, das klingt ganz nett, "Sprachspiel". Ganz so freundlich ist es in der Praxis nicht. Denn diese Text- und Deutungsarbeit im Recht hat natürlich mit Macht und Gewalt zu tun.
Wenn Juristen sich mit der Bedeutung eines Normtextes auseinandersetzen, machen sie das ja meist nur deshalb, weil in einem konkreten Fall strittig ist, wie die staatlich gesetzten Vorschriften des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu verstehen sind. Wenn Juristen also mit Texten arbeiten, dann immer mit Blick auf semantische Kämpfe - 'Be-Deutungskämpfe' -, denen reale soziale Konflikte vorausgehen.
Wir untersuchen, wie diese Konflikte in und mit Sprache ausgefochten werden und welche kommunikativen Strategien und Argumentationsmuster sich durchsetzen. In gewisser Weise gehen wir dabei auch der Frage nach, wie die Juristenzunft sich die "normale" und "abnormale" Welt vorstellt, also auf welches Fach- und Weltwissen sie zugreift oder welche 'Vor-Urteile' sie in ihrer Deutungsarbeit unterstellt und reproduziert.
Orientierung für bessere Gesetze
Das sind brisante Fragen…
Die Untersuchung solcher Fragen verstehen wir als Beitrag zur Rechtstatsachenforschung, um zu dokumentieren, wie das Recht in der sprachlich-kommunikativen Praxis funktioniert – oder auch nicht (so gut) funktioniert. Von dort aus ist man natürlich schnell bei Überlegungen, wie sich die juristische Methodik weiter verbessern oder unterstützen ließe.
Zum Beispiel können wir mit unseren Daten und computergestützten Verfahren transparenter nachvollziehen, welche Bedeutungsvarianten ein Wort in Fach- und Gemeinsprache hat. Meint beispielsweise "Asche" im Gemeinsprachgebrauch auch das verbliebene Zahngold des Eingeäscherten? Das war im Strafrecht mal Thema. Oder führt die Verwendung des Fachausdrucks "geschäftsmäßig" in einem Normtext zur Sterbehilfe möglicherweise zu Missverständnissen im Alltag, wo mit dem Wort vor allem ein Verwertungszusammenhang assoziiert wird?
Die Rechtslinguistik kann eine Orientierung geben - sowohl für die Rechtsprechung als auch für die Formulierung besserer, also verständlicherer Gesetze.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie Wörter analysieren?
Die Bedeutung eines Wortes ist sein regelhafter Gebrauch in der Sprache. Oder anders gesagt: Fragt man nach der Bedeutung eines Wortes, fragt man danach, wie es in bestimmten Situationen typischerweise verwendet wird. Als Linguisten suchen wir – sehr ähnlich wie Juristen, nur vielleicht genauer hinsehend – in Textsammlungen nach Regelmäßigkeiten im Sprachgebrauch. Das wird mit dem Einsatz des Computers erheblich erleichtert, denn er kann Muster erkennen und in großen Datenmengen sehr leicht auszählen, in welcher sprachlichen Umgebung ein Wort typischerweise steht.
Den "allgemeinen Sprachgebrauch" transparent machen
Diese Sprachgebrauchsmuster bilden zusammen mit den Volltexten die Basis dafür, Bedeutungsvarianten zu interpretieren und zu unterscheiden. Denn in der Regel hat ein Wort mehrere Verwendungsweisen je nach Kontext: Mindestens eine dominante oder prototypische Verwendung - das ist diejenige, die uns ohne Nachdenken beim Hören sofort einfällt - und meist mehrere seltenere Nebenbedeutungen.
Durch unsere Analyse lassen sich diese Verwendungsweisen leichter und vor allem transparenter differenzieren, als wenn jemand nur seine eigene, meist fehleranfällige Sprachintuition bemüht. Richter sprechen gerne vom "allgemeinen Sprachgebrauch", aber den behaupten sie meist einfach nur und begründen ihn nicht. Oder sie nutzen den Duden als vermeintliches "Sprachgesetzbuch", was natürlich Unsinn ist.
Nehmen Sie den Begriff "Gefährder" - eine neue Vokabel in der Polizeipraxis, die aus der Fachsprache des Polizeirechts abgeleitet wurde. Sie bezeichnet, vereinfacht gesagt, Personen, von denen man glaubt, dass sie vielleicht einmal eine schwere Straftat wie einen Terroranschlag planen könnten. Der ohnehin recht bedeutungsoffene Ausdruck ist über Medien auch in die Gemeinsprache diffundiert, wird dort – leider oft auch von Politikern – aber als reines Stigmawort zur Diffamierung politischer Gegner verwendet.
Noch sind viele Fragen offen
Welches Feedback bekommen Sie von Juristen für Ihre Arbeit?
Das Interesse am interdisziplinären Austausch nimmt zu, darüber freuen wir uns. Denn viele Fragen rund um die juristische Textarbeit sind offen und können nur gemeinsam bearbeitet werden.
Ich arbeite seit meiner Promotion eng mit Rechtswissenschaftlerinnen und Rechtswissenschaftlern zusammen und bin akademisch sozialisiert worden im Heidelberger Arbeitskreis aus Juristen und Linguisten, der der älteste interdisziplinäre Arbeitskreis der Rechtslinguistik weltweit ist. Ich habe viel profitiert von dem Austausch mit Rechtswissenschaftlern wie Friedrich Müller, Ralph Christensen, Thomas Seibert und Hanjo Hamann, die sich mit Sprachtheorie oder linguistischer Methodik auseinandergesetzt haben. Vor allem früher war dieser Austausch auf Augenhöhe sicher eine Besonderheit des Arbeitskreises.
Vor allem mit den jüngeren Generationen an Sprach- und Rechtswissenschaftlern haben sich die disziplinären Grenzen kontinuierlich weiter geöffnet. Es setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass sich so komplexe gesellschaftliche Systeme – wie das Recht oder die sprachliche Kommunikation – im Grunde nur fächerübergreifend angemessen untersuchen lassen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Professor Vogel!
Friedemann Vogel ist Professor für Sozio- und Diskurslinguistik am Germanistischen Seminar der Universität Siegen. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Fachkommunikation in Rechtswesen und Justiz. Er ist Koordinator der Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik und war von 2017-2019 Gründungspräsident der International Language and Law Association (ILLA).
Weitere Informationen und Datensammlungen zur Sprache- und Recht-Forschung sind frei zugänglich auf den Plattformen CAL²Lab und SOULL (Sources of Languages and Law) zu finden.
Anja Hall, Rechtslinguistik: . In: Legal Tribune Online, 12.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42778 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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