Gegen die "Unsittlichkeit" im Theater: Mit Thomas Mann als Hilfszensor

von Martin Rath

21.04.2013

2/2: Münchener Theaterzensur ab 1908

Die Vorschläge des Assessors wurden von höheren Regierungsstellen geflissentlich bearbeitet. Es folgte eine vorbildliche schriftliche Anhörung von Zensurbehörden anderer deutscher Teilstaaten sowie prominenter Rechtswissenschaftler. Man entschied sich schon bald nach dem Vorschlag vom Juni 1907 für den bayerischen Sonderweg, in erster Linie wohl, damit die Zensur bei gleichem Ergebnis höhere Legitimität gewönne. Zur Auswahl der Beitragsmitglieder hieß es:

"Es muß, ohne die Moderne zu übersehen, auf Männer konservativer Richtung Bedacht genommen werden, die nach ihrer gesamten bisherigen Betätigung Gewähr dafür bieten, daß die Zensur nicht aus den ihr zukommenden, ihre Existenzberechtigung begründenden Bahnen einer positiven, staatserhaltenden, nationalen und monarchistischen Institution gedrängt wird."

Schon am 20. März 1908 trafen sich die zukünftigen Mitglieder der zwei Haupt- und zwei Ersatzkommissionen unter Vorsitz des Münchener Polizeipräsidenten von der Heydte: Gestandene Professoren, Mediziner – wie der bekannte Psychiater Emil Kraepelin als Vertreter der "Sittlichkeitsverbände" – Gymnasial- und Realschullehrer. Der Altersdurchschnitt der Herren lag deutlich über 60 Jahren. Juristen waren nicht dabei.

Theaterleute hatten wie bisher vorab einen Antrag zu stellen und das Manuskript vorzulegen. Dessen Begutachtung übernahm nun die Kommission im schriftlichen Verfahren oder durch Besuch der Generalproben.

Mit seinen ersten entscheidungsrelevanten Gutachten reizte der Zensurbeirat den Unmut der Sittlichkeitswächter: Neben einem Schwank von Max Dreyer, "Das Tal des Lebens", in dem ein fiktiver österreichischer Graf von einem Förster gehörnt wird, wurde nun auch Frank Wedekinds "Frühlingserwachen" unter Auflagen freigegeben – ein Pubertätsdrama, das bekanntlich so "unsittlich" ist, dass des heute mitunter als Pflichtstoff in Schulen gelesen wird.

Der Unmut äußerte sich in massivem Protest. Anspielungen auf Sexualität in weiteren Stücken vor allem Wedekinds wurden daher in den Folgejahren schneller unter die verbotspflichtige Unsittlichkeit subsumiert. Als am 24. April 1913 eine Theatergruppe die öffentliche Aufführung von Wedekinds "Lulu" – eine Kompilation zuvor bereits untersagter Stücke – zu genehmigen beantragte, existierte ein starker Vorbehalt gegen den Dramatiker. Thomas Mann, eine Ausnahmefigur im Zensurbeirat, votierte für die Genehmigung – die Mehrheit aus sittlichen Gründen dagegen. Zugestellt wurde der Bescheid am 16. Mai 1913. Immerhin folgte eine beschränkte Privataufführung. Am 26. Mai trat Mann von seinem Amt zurück.

Komisch-fremde Dogmatik der Theaterzensur

Wer heutige Menschenrechtskataloge eher freiheitsfreundlich zu lesen gelernt hat, findet in der juristischen Literatur des Kaiserreichs erstaunliche Ausführungen zur Theaterzensur.

So heißt es beispielsweise in Artikel 27 der preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850: "(1) Jeder Preuße hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern. (2) Die Censur darf nicht eingeführt werden; jede andere Beschränkung der Preßfreiheit nur im Wege der Gesetzgebung." Diesen zweiten Absatz interpretierten nicht nur Polizeipraktiker als Ausnahme der geschützten Meinungsfreiheit, auch ein Fritz Stahn interpretierte die Verfassungsnorm in seiner 1915 erschienen Dissertation noch strikt wörtlich, freiheitsunfreundlich.

Der frischgebackene Dr. iur. und Reserveleutnant Stahn hatte zudem eine interessante Idee zur Reichweite der Meinungsfreiheit: Schauspieler äußerten gar keine eigene Meinung, sondern seien Instrument der Meinungsfreiheit des Dramatikers, der diese ja schon durch das Schreiben des Stücks habe ausüben können. Schauspieler gäben bestenfalls noch etwas Affekt hinzu. Wäre dieser Gedanke heute noch vertretbar, man könnte wohl das Internet zur Hälfte stilllegen, wäre doch das ganze Nachgeplapper und affektive "Daumen hoch"-Zeigen nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Fazit: Im ewigen Kampf Bayern vs. Preußen hatten die Bayern rechtshistorisch die Nase vorn mit ihrer Innovation, die Zivilgesellschaft durch "Beiräte" in autoritäre Staatspraxis einzubinden. Immerhin hatte aber Stahn einen glänzenden brandaktuellen Gedanken: Wenn Frauen im Theater Hüte tragen, die die Sicht behinderten, oder die Herren durch Quatschen die Schauspieler störten, sei das als "grober Unfug" polizeirechtswidrig nach § 360 Abs. 1 Nr. 11 Reichsstrafgesetzbuch, heute: § 118 Ordnungswidrigkeitengesetz.

Man kann sich darüber streiten, ob die Münchner Zensurgeschichte noch von großem Interesse ist. Dem preußischen Dr. Stahn, dem Frauenhüte und Herrengespräche im Theater polizeirechtswidrig erschienen, gehört aber die Zukunft: Als Stoßgebet, wenn im Konzert oder Theater mal wieder Nachbars Handy klingelt.

Hinweis: "Die Theaterzensur in München 1900-1918" wurde von Michael Meyer in seiner 1982 erschienenen geschichtswissenschaftlichen Dissertation erschlossen.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Gegen die "Unsittlichkeit" im Theater: . In: Legal Tribune Online, 21.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8571 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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