In seinem Bestseller "1913. Sommer des Jahrhunderts" führt Florian Illies allerlei Ereignisse an, die vor 100 Jahren die Kunstwelt erschütterten. Die Juristerei kommt nur sparsam vor. Dabei tauchte eine bemerkenswerte Einrichtung zwischen Recht und Kunst im April 1913 auf: In Bayern beteiligte man die Bürger über Beiräte an der autoritären Staatspraxis der Theaterzensur, erzählt Martin Rath.
Einen beruhigenden Hinweis darauf, dass die Welt früher auch schon anstrengend war, finden Arbeits- und Medizinrechtler in Florian Illies Bestseller-Sachbuch über das Kulturgeschehen des Jahres 1913: Einer ihrer Kollegen, der böhmische Versicherungsbeamte Dr. iur. Franz Kafka litt nicht nur unter seinem Seelenleben ganz allgemein, sondern auch unter der damals sehr populären Neurasthenie, derentwegen er sich zeitweilig vom Dienst befreit haben lassen soll. Neurasthenie, man könnte auch schlicht von allgemeiner Erschöpfung sprechen. Heute heißt das ja Burnout.
Die Auszeit vom Dienst bei der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen nutzte Kafka für ein Praktikum in einer Prager Gärtnerei, was ungefähr der heutigen Vorgehensweise in Burnout-Fällen entsprechen könnte, beendete diese arg bodenständige Arbeit aber Ende April 1913 rasch wieder, als er hörte, dass der Sohn des Gärtners sich unlängst suizidiert hätte: Ein womöglich beunruhigender Hinweis darauf, dass Beschäftigungstherapie in der Natur nur eine begrenzte Heilkraft hat.
Schnee in München, Sittenwächter in Köln
Vielleicht wären Kafkas Lebensgeister im Theater besser untergebracht gewesen: "Am 30. April 1913 wird Frank Wedekinds Theaterstück 'Lulu' von der Zensur verboten", heißt es in Illies Buch. Thomas Mann als frischgebackenes Mitglied des Zensurbeirats habe sich mit einem positiven Gutachten nicht durchsetzen können. Diese Erzählung ist mindestens ergänzungsbedürftig.
In den Teilstaaten des Deutschen Reichs wie auch in anderen europäischen Ländern war seinerzeit das Theater einer Vorzensur unterworfen. Sogar noch die erste Londoner Aufführung des Musicals "Hair" kam verspätet zustande, weil bis 1968 der "Lord Chamberlain of the Household" Bühnenwerke zensierte.
In Deutschland war die Vorzensur für Bühnenwerke bereits vor dem Ersten Weltkrieg stark umstritten. Die Künstler kritisierten u.a. die Tendenz der Polizeibehörden, Stücke von moderner Tendenz zu verbieten oder nur unter teils bizarren Auflagen zu genehmigen. Bühnenwerke, die sich explizit mit Fragen von Sexualität beschäftigten, konnten regelmäßig nur als Privatvorführungen auf die Bretter gebracht werden. Die engere Vorzensur entfiel dann zwar, allerdings war der Zutritt auf Mitglieder interessierter Vereine beschränkt. Öffentliche Werbung sowie eine Wiederholung der Aufführung wurde von den Polizeibehörden teils rigoros unterbunden – mit negativen Konsequenzen für Wirtschaftlichkeit und künstlerische Qualität.
Zudem lagen zwei gar nicht kleine Bürgerbewegungen über Kreuz: 1904 kam in Köln die immerhin schon 16. Konferenz der deutschen Sittlichkeitsverbände zusammen. Diese Vereinigungen wandten sich höchst aktiv gegen "unsittliche" Darstellungen in Literatur und Theater, bald auch im Kino. Neben christlichen Moralvorstellungen gab ihnen die Vorstellung Auftrieb, unverhüllte Sexualität in der Kunst würde die "Wehrkraft des jungen Deutschen Reiches" untergraben.
Talibaneske Forderungen und Münchener Pragmatismus
Im Wesentlichen war die Theater-Zensur einfaches Polizeirecht, also Ländersache, und wurde als allgemeine Gefahrenabwehr gerechtfertigt. Seit 1892 beschäftigte sich auch die große Politik mit Zensur: Die sogenannte "Lex Heinze" sollte nach ersten Entwürfen jede öffentliche Darstellung "unsittlicher" Sachverhalte unter Strafe stellen. Die ursprünglichen Vorlagen erfassten auch das Theater und die Wissenschaft.
Unzucht liegt bekanntlich oft im Auge des Betrachters. Die Entwürfe der "Lex Heinze" hätten auf ein talibanartiges Verbot von Nacktheit in der deutschen Öffentlichkeit hinauslaufen können. Griechische Statuen also nur noch mit schwarzem Balken? Undenkbar. Die liberale und sozialdemokratische Opposition organisierte sich dagegen im Goethe-Bund. Eine Versammlung gegen die Sittlichkeitsgesetzgebung brachte es allein in München auf 6.000 Teilnehmer. Das am 6. Februar 1900 beschlossene Gesetz wurde in der Folge deutlich entschärft.
Die öffentliche Moral blieb umkämpft. Der königlich-bayerische Bezirksamtsassessor Dr. Dietrich Bittinger, in der Münchener Polizeidirektion als Referent für die Theaterzensur zuständig, regte mit Schreiben vom 19. Juni 1907 an, einen Zensurbeirat einzusetzen, der die Behörde gutachterlich beraten solle. Das war bayerisch innovativ. In Berlin übte der Polizeipräsident die Theaterzensur beispielsweise nur mit gelegentlicher externer Beratung aus.
Martin Rath, Gegen die "Unsittlichkeit" im Theater: . In: Legal Tribune Online, 21.04.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8571 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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