2/2: Wirtschaftliche Begründung und Kritik
So sehr diese Worte auch ins Zitatschatzkästlein heutiger Anwälte passen, in Gneists Epoche hatten sie einen ernsteren Hintergrund: In den 1850er Jahren war durch die Finanzierungs- und Zulassungspraxis ein Absinken der Anwaltszahlen zu beobachten, ein beunruhigender Zustand angesichts der stark wachsenden Bevölkerungszahl. In der freien Advokatur wurde nicht zuletzt ein ökonomisches Mittel gegen die drohende Unterversorgung gesehen.
Der Vorschlag, die wachsende Untertanenschaft des preußischen Reichs durch die freie Advokatur mit einer hinreichenden Zahl von Beratern zu versorgen, traf schnell auf Widerspruch:
"Statt der 21.000 Justizbeamten, von denen Herr Gneist sagt, daß das vorhandene Geld nicht ausreicht, zwei Drittel dieses Personals ausreichend zu besolden, möchte er ein gleiches Heer hungerleidender Advocaten schaffen; dann hätte freilich die Justiz und die Verwaltung, Staat und Commune, vor Allem aber das Publikum die doppelte und dreifache, ja die mehr als zehnfache Zahl von rechtskundigen Berathern, und es blieben immer noch Tausende übrig, welche den Cigarrenhändlern, den Agenten, den Mäklern, kurz den Gewerbetreibenden aller Art, Concurrenz zu machen im Stande wären. Ob aber den wahren Interessen des rechtssuchenden Publikums damit gedient ist, müssen wir sehr bezweifeln."
Diesen Gedanken, 1868 in einer Gneist-Replik vom Berliner Rechtsanwalt und Abgeordneten A.F. Haack geäußert, hat wohl jedes juristische Erstsemester in den vergangenen 150 Jahren zu hören bekommen – nur dass heute nicht mehr von Zigarrenhändlern und Maklern die Rede sein dürfte, sondern von Taxifahrern oder der Consultingbranche.
Liberalismus, Konservatismus – was war das noch mal?
Wer tiefer als auf diesem Poesiealbum-Niveau gräbt, stößt auf einen interessanten historischen Kontext. Von Gneist war als liberaler Jurist und Politiker seiner Epoche generell an der Frage interessiert, wie der Gegensatz von Staat und Gesellschaft aufzulösen sei. Wie frei oder reguliert die Anwaltschaft zu sein habe, war hier nur eine Frage unter vielen.
Eine andere Frage, die in den 1860er Jahren äußerst heftig diskutiert wurde, betraf etwa die Organisationsform militärischer Gewalt. Das von Liberalen dominierte preußische Abgeordnetenhaus verweigerte sich kraft seines Budgetrechts den Plänen der Krone, das stehende Heer auszubauen. Im Streit um die Heeresreform brach die neue, von Otto von Bismarck geführte Regierung offen mit dem Budgetrecht. In diesem Verfassungskonflikt nahm von Gneist noch 1866 – entschieden, aber erfolglos – Partei gegen die sogenannte Indemnitätsvorlage ein, die das Bismarck'sche Vorgehen nachträglich legalisieren sollte.
Neben dem Budgetrecht des Parlaments ging es Gneist dabei auch um die Sache selbst: Gegenstück zum stehenden Heer war die Landwehr, in der er eine Form der "ehrenamtlichen Selbstverwaltung" der militärischen Gewalt sah. Heute wissen wir, was daraus in den nächsten 80 Jahren daraus folgte, dass das preußische Militär seinerzeit nicht nach dem Modell organisiert wurde, das wir aus der Schweiz kennen.
Verwaltungsjuristen kennen ihn vielleicht noch
Bekannt ist Rudolf von Gneist heute, wenn überhaupt, unter Verwaltungsjuristen - und zwar als Mitbegründer der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Dass er Zitate hinterlassen hat, die sich fürs anwaltliche Poesiealbum eignen – oder als Sinnspruch für die Kanzlei-Homepage, so groß ist der Unterschied hier ja nicht –, war zu belegen.
Schaut man darauf, dass zum Beispiel noch jedem bedeutenden US-Juristen des 19. und 20. Jahrhunderts, ob Professor oder Richter, zugängliche und lesbare Biografien gewidmet werden, nimmt es etwas Wunder, dass die juristischen Geistesgrößen aus dieser Epoche Deutschlands heute so wenig bekannt sind.
Wenn uns beispielsweise eher, zumindest vage, geläufig ist, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht in den 1890er Jahren von Louis D. Brandeis erfunden wurde, als etwa den Streit ums parlamentarische Budgetrecht mit der Haltung eines Rudolf von Gneist zu verbinden, läuft vielleicht irgendetwas schief. Gneist hätte das kaum gefallen; denn was schrieb er noch gleich über die Anwaltschaft ins Poesiealbum?
"Ueber dem Handwerke steht sie auch durch den Vorbesitz der vollen humanistischen Bildung."
Der Autor Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Ohligs.
Martin Rath, Der freie Anwaltsberuf: . In: Legal Tribune Online, 13.08.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23917 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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