Ein in Deutschland hoch angesehener Kunstsammler sorgt sich öffentlich um das Wohl seines Vaterlands, finstere Gesellen machen ihm wegen Majestätsbeleidigung den Prozess, eine Lichtgestalt verteidigt ihn – und das alles ist vergessen.
Es war einmal: 1799. Im November, am berühmten 18. Brumaire VIII des Revolutionskalenders, sollte sich Napoleon Bonaparte durch den Sturz des Direktoriums die Macht sichern, kaum dass er von seinem Ägypten-Feldzug nach Paris heimgekehrt war – einem Feldzug, der nebenbei auch das Selbstverständnis der islamischen Welt tief erschütterte.
Frankreich führt im gleichen Jahr das metrische System verbindlich ein. Der Stein von Rosette wird entdeckt, der es nach Jahrhunderten esoterischer Spekulation endlich erlauben sollte, die Hieroglyphen zu entziffern – das Geburtsjahr der modernen Ägyptologie. In New York, dem Bundesstaat der blutjungen USA, tritt ein Gesetz in Kraft, mit dem das Ende der Sklaverei eingeleitet wird – freilich unter Rücksichtnahme auf den Besitzstand der bisherigen Eigentümer.
Das Jahr 1799 war also reich an dramatischen Ereignissen, die bis heute Wirkung zeigen.
In Deutschland, im Hochstift Hildesheim, einem kleinen souveränen Fürstentum des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, brach sich 1799 immerhin der Unmut eines aufgeklärten Adeligen gegen die Misswirtschaft seines Hildesheimer Vaterlands Bahn. Es folgte ein politisch motivierter Strafprozess, der eine Welt im Umbruch und Menschen von Verstand und Rückgrat zeigt – und heute fast völlig vergessen ist.
Eine bunte Welt der Kleinstaaterei
Der berühmte Samuel von Pufendorf (1632–1694) hatte die Verfassung des Heiligen Römischen Reichs schon 150 Jahre vor dem Ende dieses deutschen Staatenverbunds als den eines "irregulären und einem Monstrum ähnlichen Körpers" bezeichnet.
Die berüchtigte Polemik Pufendorfs hat gewiss dazu beigetragen, dass sich heutige Juristen kaum noch mit dem Recht beschäftigen, das vor Gründung des kleindeutschen Nationalstaats von 1870/71 hierzulande das Leben regelte.
Der Fall des Freiherrn Friedrich Moritz von Brabeck (1742–1814) mag etwas Farbe in diese verwunschene Epoche bringen.
Brabeck, der nachgeborene Sohn einer wohlhabenden westfälischen Adelsfamilie, hatte entsprechend der Familientradition die geistliche Laufbahn eingeschlagen. Die spirituellen Ansprüche an einen katholischen Priester blieben dabei oft nachrangig. Im Fall Brabecks folgte auf die Weihe zum Subdiakon die Berufung zum Domherrn in Hildesheim, womit er zum Akteur der verfassungsmäßigen Ordnung dieses Kleinstaates wurde.
Unter den Hildesheimer Domherren zählte Brabeck zur Partei jener, die sich der Sache der Aufklärung verschrieben hatten. 1786 bewarb er sich mit Unterstützung eines Teils der Hildesheimer Domherren um die Nachfolge des Fürstbischofs von Paderborn und Hildesheim. Offenbar aus intellektueller Unlust am Brauch, die hierzu notwendigen Stimmen zu kaufen, verlor er gegen den Mitbewerber Franz Egon von Fürstenberg (1737–1825).
Nach dem Tod seines Bruders wurde Brabeck unter päpstlichem Dispens in den Laienstand zurückversetzt, trat das Familienerbe an und heiratete bald darauf. In den beschaulichen politischen Kontroversen seines Hildesheimer Vaterlands hielt sich Brabeck noch zurück. Berühmt wurde er derweil als Kunstsammler und durch Editionsprojekte zur Förderung des Kunstverstands.
Kleines (Finanz-)Verfassungsmonstrum: Hildesheim
Was Samuel von Pufendorf über das Heilige Römische Reich im Großen geschrieben hatte, galt erst recht für seine kleinen souveränen Teilstaaten – ihre Verfassungen waren zumeist sehr buntscheckig.
Im Hochstift Hildesheim hatte nicht allein der Fürstbischof das Sagen. Das städtische Bürgertum, die Angehörigen des Domkapitels sowie die adeligen Herren der Rittergüter, also die Stände dieses kleinen Reichs, genossen einerseits verfassungsmäßige Mitwirkungsrechte. Andererseits trug der bischöfliche Fürst selbst wiederum Verantwortung im Heiligen Römischen Reich – mit der Folge, dass noch in den 1790er Jahren die Schulden zu beklagen waren, die aus dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763), möglicherweise sogar dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) herrührten.
Die Finanzverfassung war ein einziges Durcheinander. Nicht nur, dass die Steuer- und Abgabenlasten sowie aufgezwungene Schuldentitel nach ständischen statt nach Kriterien der ökonomischen Leistungsfähigkeit geteilt wurden – dass dies anders sein sollte, war seinerzeit eine unerhört moderne, aufklärerische Idee -, nein, auch in der Ausgabenverwaltung herrschte gleichzeitig Anarchie.
Unter den staatlichen Haushalten, es gab derer mehrere, wurde etwa eine Kasse dazu geführt, die andere Kasse zu verwalten – wobei die Kosten hierfür annähernd so hoch ausfielen wie der Durchlauf durch die verwaltete Kasse selbst. Letztlich handelte es sich hier natürlich darum, Tatbestände für die Alimentation der Beamten zu schaffen.
Sehr altertümliche Rechts- und Abgabenverhältnisse aus dem Lehensrecht standen neben vergleichsweise modernen Einrichtungen wie der staatlich organisierten Feuerversicherung – auf deren Kasse aber, wie man sich denken kann, wiederum gern ein Günstling des Bischofs oder eines der Stände Zugriff begehrte und auch erhielt.
Im Jahr 1799 machten sich nicht nur neue Kriegslasten bemerkbar, die nach altem System, also nicht nach Leistungsvermögen geschultert wurden – die französischen Revolutionsheere waren bekanntlich auch außerhalb Ägyptens zugange.
In dieser Lage erhielten die 80 Angehörigen eines der Hildesheimer Stände im Frühjahr 1799 ein Druckwerk unter dem Titel: "Einige Bemerkungen dem gesammten Corps der Hildesheimischen Ritterschaft in ihrer Versammlung am 20. April 1799. zur Prüfung und Beherzigung vorgelegt von Moritz von Brabeck."
Brabeck appellierte darin an seine Standesgenossen, ihren Pflichten im Rahmen der ständischen Verfassungsordnung nachzukommen, etwa in fiskalischen Angelegenheiten auf Rechenschaft zu drängen. Im Original liest sich das so: "Da die Herren uns niemals Landtagsabschiede, Bilançe über Staatsvermögen, Resultate über Rechnungsbestand mittheilen, wie ist es möglich, einen Gegenstand richtig zu überlegen und zu durchdenken, wenn es, wie es doch so selten bisher geschah, Ihnen gefällt, unsere Meinung zu hören. Bey einer Zusammenberufung könnte man sich die nöthigen Papiere vorlegen lassen, man könnte Rechnungen selbst inspicieren[.]"
Kritik an Misswirtschaft gleich Majestätsbeleidigung?
Diese Druckschrift, in wahrscheinlich nur 80 Exemplaren an die Mitglieder des Hildesheimer Ritterstandes adressiert, gelangte auch in die Hände eines Angehörigen des Domkapitels, das als Herr über ein entsprechendes Gehöft selbst Mitglied des an sich konkurrierenden Ritterstands war.
Der Verteidiger von Brabecks, der hoch angesehene Staatsrechtsgelehrte Karl Friedrich Häberlin (1756–1808), machte hier eine Quelle für die gegen seinen Mandanten hochkochenden Gerüchte aus. Der geistliche Stand lebte in Furcht vor dem jakobinischen Terror, der ihm in Frankreich als mitherrschender Klasse den Garaus gemacht hatte. Zudem führt der Zölibat geistliche Herren von jeher gern in die Gerüchteküche.
Der Freiherr von Brabeck wurde der Majestätsbeleidigung zulasten des Fürstbischofs Franz Egon, seines früheren Mitbewerbers, beschuldigt. Als höchst unfein monierte Verteidiger Häberlin, dass seinem Mandanten die rechtlichen Konsequenzen vorgehalten wurden, die in den deutschen Nachbarstaaten üblich seien – das Stäupen, die Hinrichtung mit dem Schwert, obwohl doch keine hohe Verurteilungswahrscheinlichkeit bestanden habe. Rechtswidrig sei, die Erklärung seiner ehrenhaften Motive nicht zur Kenntnis zu nehmen. Zudem wurde neben der strafrechtlichen Denunziation auch ein lehensrechtlicher Prozess gegen von Brabeck eröffnet, der ihn in seinem Grundbesitz bedrohte.
Das alte Reich verschwindet
Der Prozess gegen von Brabeck verlief im Sande, nicht zuletzt, da die Vorwürfe an den loyalen, aber kritischen Untertanen stark konstruiert wirkten. Aus der Kritik Brabecks, der Fürstbischof könnte sich ergebenst gehalten fühlen, seine früheren Zusagen zur Tilgung von Kriegsschulden beizutragen, Taten folgen zu lassen, hatten seine Verfolger z.B. die angebliche Beleidigung herausgelesen, der Bischof sei ein bloßer Profiteur ("Rentier") am Vermögen seines Fürstentums.
1802 war es dann ohnehin mit der Souveränität des Erzstifts Hildesheim vorbei, das an Preußen fiel – Brabeck wurde bei dieser Gelegenheit zum Grafen heraufgestuft.
Zum Vergleich: Weniger glimpflich als für Brabeck ging die Sache eines anderen Mandanten Häberlins vonstatten: Trotz eines entgegenstehenden Urteils des Reichskammergerichts entließ die hannoversche Regierung 1795 den Beamten Friedrich Ludwig von Berlepsch (1749–1818), der sich dafür eingesetzt hatte, dass der "König von England und Kurfürst von Hannover" die Einwohner seiner deutschen Provinzen nicht unmäßig mit seinem Krieg gegen Frankreich belasten solle. Dieser Streit, der in der Landesverweisung Berlepschs mündete, sollte erst posthum beigelegt werden.
Ärgernis vergessener Geschichten
Der Fall des kritischen Freiherrn von Brabeck lässt sich in der Verteidigungsschrift seines Rechtsbeistands Karl Friedrich Häberlin nachlesen, die – soweit erkennbar – bisher nur in einem Digitalisat von vertretbarer Güte vorliegt.
Während im Vereinigten Königreich beispielsweise die Schriften eines aufgeklärten Konservativen wie Edmund Burke (1729–1797) bis heute das politische und rechtliche Denken befruchten, scheinen hierzulande ganze Epochen vor 1870/71 bzw. vor 1933/45 einem vergessenen Mittelalter anzugehören.
Eine zugleich weltoffene und aufgeklärte Variante des Konservatismus in Deutschland wurde damit leider derart tief begraben, dass sich heute schon das Bedauern darüber im Sternbild der Reichsflugscheibe bewegt. Wenn auch kleiner von Format als ein Edmund Burke: das hat der tapfere Freiherr von Brabeck nicht verdient.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Majestätsbeleidigung in Hildesheim?: . In: Legal Tribune Online, 05.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30159 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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