Bereits 1892 zweifelte das Reichsgericht, ob eine Immunität von Abgeordneten überhaupt vernünftig sei. 70 Jahre später äußerte der Philosoph und Jurist Wilhelm R. Beyer eine vernichtende Kritik. Seine Argumente wirken noch heute frisch.
Ein Anliegen des Münchener Rechtsanwalts Leopold Krafft von Dellmensingen (1908–1994) löste am 18. Juni 1953 im Bundestagsplenum "allgemeine Heiterkeit" aus: In seiner 273. Sitzung vertagte der 1. Deutsche Bundestag seine Entscheidung über die von Anwalt Krafft gewünschte Genehmigung, den Bayernpartei-Abgeordneten Anton von Aretin (1918–1981) "zwecks Erzwingung der Ableistung des Offenbarungseides" in Haft nehmen zu lassen.
Bundestagspräsident Hermann Ehlers (1904–1954) begründete seinen Vorschlag, die Sache in letzter Minute noch einmal zu vertagen, damit, dass ihm gerade erst "eine Quittung über den Betrag von 533,27 DM, der heute telegraphisch überwiesen worden ist, von dem Herrn Abgeordneten von Aretin vorgelegt worden" sei, und der Anwalt telefonisch erklärt habe, dass "er den Antrag zurückziehen würde, wenn das Geld eingegangen sei".
In der nächsten Sache aus dem Ausschuss für Geschäftsordnung und Immunität ging es gleich danach schon ernster zu: Adolf Arndt (1904–1974), "Kronjurist" der SPD-Bundestagsfraktion, war im Herbst 1952 vom FDP-Abgeordneten Thomas Dehler (1897–1967), erster Bundesminister der Justiz, publizistisch übel angegriffen worden. Arndt habe sich 1933 dem NS-Staat angedient und seinerzeit seinen Richtereid aus selbstsüchtigen Motiven gebrochen. Arndt stellte daher bei der Staatsanwaltschaft Bonn Strafantrag wegen Verleumdung und übler Nachrede.
Nach kurzer Rede und Widerrede, in der u. a. die Frage aufgeworfen wurde, ob es dem Bundestag zustehe, die Sache selbst strafrechtlich zu würdigen, folgte das Plenum dem Vorschlag des Immunitätsausschusses: Der Bundestag lehnte es ab, die nach Art. 46 Abs. 2 Grundgesetz (GG) für das Strafverfahren gegen Dehler erforderliche Genehmigung zu erteilen.
"Immunität" – kritisch geprüft
Unter dem Titel "Immunität als Privileg" legte der Jurist und Philosoph Wilhelm Raimund Beyer (1902–1990) im Jahr 1966 eine gedankenreiche und scharfe Auseinandersetzung mit diesem Rechtsinstitut vor.
Schärfe und Reichtum an Gedanken hatten System: Als Gründer der Internationalen Hegel-Gesellschaft war Beyer ein streitbarer Kopf in einem grenzüberschreitenden Netzwerk von Denkern, die sich von historischen Nebensächlichkeiten wie dem Kalten Krieg nicht im argumentativen Austausch behindern lassen wollten.
Intellektuelle Korruption griff er scharf an. Als Justitiar der "Nürnberger Presse" war Beyer mit ihrem Verleger vertraut, dem oft verkürzt als "Nationalbolschewisten" bezeichneten Joseph E. Drexel (1896–1976). Eine klassische akademische Karriere als Jurist lag nicht im Bereich des Wahrscheinlichen. Mit seinen an Hegel geschulten Begriffen von Recht, Staat und Gesellschaft schrieb Beyer eine nichtsdestoweniger sehr dichte Kritik am Rechtsinstitut der Abgeordnetenimmunität.
Ein Stichwort gab ihm das Reichsgericht. Es hatte sich in einem wenig beachteten Urteil vom 25. Februar 1892 (RGSt. 22, 379–388) ausführlich mit dem Schutz auseinandergesetzt, den die Reichsverfassung von 1871 dem Abgeordneten versprach.
Dem Gericht missfiel erkennbar, dass die "Genehmigung des Reichstags" zur Strafverfolgung während der oft langen Vertagung seiner Sitzungstätigkeit nicht eingeholt werden konnte, was "sich in höchst irrationaler Weise zu einem mit der Dignität eines Reichstagsmitglieds persönlich verknüpften Freibriefe der Unverfolgbarkeit und Straflosigkeit erweitern" müsse. Bei kurzen Verjährungsfristen, die insbesondere im Presserecht – einem Feld, auf dem sozialdemokratische Abgeordnete riskant lebten – griffen, sei dies "schnell fühlbar".
Für seine Verhältnisse überdeutlich kritisierte das Reichsgericht die Abgeordnetenimmunität: "Ob derartige Exemtionen noch einen vernünftigen Sinn haben, ob sie mit den Grundsätzen der Rechtsgleichheit und den Bedürfnissen der Rechtsordnung verträglich sind, darf mit Grund bezweifelt werden."
An Hegel geschulte Vernunft und die Immunität
Zweifel an den Vernunftgründen eines juristischen Konstrukts verstanden die an Hegel geschulten Denker früherer Generationen oft als Einladung, argumentativ aus dem Vollen zu schöpfen – etwa in der Staatslehre von Martin Kriele (1931–2020) findet man weitere Beispiele jüngeren Datums.
Gegen eine bequeme Denkweise, die einem Rechtsinstitut eine gewisse Würde bereits zubilligt, weil es traditionell anerkannt sei, vertrat Beyer den Anspruch, dass sich das Institut aus der Gesamtheit der Rechtsordnung rechtfertigen müsse, die zudem seiner zutreffend erkannten gesellschaftlichen Gegenwart entspricht – im Tonfall des Hegel-Kenners ergibt sich hier ein erfrischendes sprachliches Donnerwetter.
Mit der – nach Kaiserreich und NS-Staat – neuen Ordnung der Bundesrepublik habe sich das soziale Bild – die soziale Realität – des Abgeordneten verändert. Beyer zitiert etwa die nüchterne analytische Beobachtung Hans Kelsens (1881–1973), wonach nunmehr die Regierung sich als ein bloßer Ausschuss des Parlaments verstehen lasse. Daraus ergäben sich Konsequenzen für die Immunität:
"Der Partei-Abgeordnete steht nicht mehr allzusehr in Kontroverse mit seinem anderen 'Kollegen'. Im Grunde sind die Abgeordneten alle 'gleich'. Der Abgeordnete steht auch nicht mehr in Frontstellung zur Regierung, denn die Regierungsmitglieder sind ja selbst Abgeordnete und meist in dieser Eigenschaft 'immun'. Die Immunität richtet sich nunmehr gegen den Staatsbürger, der es wagen wird, einem Abgeordneten einen Fehler oder eine strafbare Handlung nachzuweisen. Heute ist die Bloßstellung eines Abgeordneten ein Vorgang, der im Grunde alle Abgeordneten berührt und nicht das Ansehen des Parlaments, wie immer nach außen hin behauptet wird, sondern das Ansehen des Berufsstands 'Abgeordneter' tangiert."
Keine Polemik im Geist der schmutzigen Details
Für die Erkenntnis, dass es sich bei der Immunität um eine systemwidrige Regelung handle, führte Beyer zwar auch die schmutzige Realität der 1960er Jahre an – ein Abgeordneter, der im Straßenverkehr auffalle, habe etwa von der Polizei wenig zu befürchten. Bei Verstößen gegen das für alle geltende Recht, deren justizförmige Bearbeitung nicht mehr informell abzuwenden war, hatte der Bundestag zudem durch Beschluss vom 8. Juni 1951 erstmals – nach Beyer zum Schutz des "Berufsstands" – eine diskrete Freigabe der Strafverfolgung geregelt.
Beyers Kritik hielt sich aber nicht mit einer billigen Polemik auf, beispielsweise gegen den einzelnen Abgeordneten, der alkoholisiert hinter dem Steuer gesessen hatte oder sich – inzwischen – mit indischem Hanf ablichten ließ. Eine solche, heute längst nicht mehr nur für Boulevardmedien typische Polemik, ergötzt sich ja mehr daran, dass gegen einen vernünftigen Grundsatz – wie die Gleichheit aller Staatsbürger – verstoßen wird, als ihm Geltung verschaffen zu wollen.
Vielmehr betonte der philosophisch geschulte Jurist, wie gravierend es gegen das Konstruktionsprinzip des Grundgesetzes verstoße, die Angehörigen des Abgeordnetenberufs von allgemeinen und gleichen Regeln auszunehmen, und zwar mit Blick darauf, dass es eine – aus der Perspektive des Jahres 1966 erst kurz zurückliegende – epochale Innovation gewesen war, im Jahr 1949 die Verfassung mit einem Katalog von Grundrechten einzuleiten.
Wo Menschenrechte herrschen, wird Immunität haltlos
Dass sich angesichts dieses in der Geschichte des deutschen Staats epochalen Bruchs auch jede Ausnahme zugunsten eines Abgeordneten besser als durch bloß harmonisierende verfassungsdogmatische Auslegungsarbeit rechtfertigen müsse, wurde nach Ansicht Beyers von Rechtsprechung und juristischer Lehre vernachlässigt.
Wie sensibel der Sachverhalt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch gesehen wurde, ließ sich mit hochkarätigen Stimmen belegen. Während nach Beyer unter den jüngeren Philosophen nur Martin Heidegger (1889–1976) vertrete, dass die Herrschenden denknotwendig "unappellabel" über ihre klaglose Gefolgschaft herrschten, urteilten selbst so konservative Köpfe wie Friedrich August von der Heydte (1907–1994), es handle sich um eine "wenn auch nicht politisch, so doch soziologisch ungerechtfertigte Privilegierung, insbesondere der persönlichen Immunität".
Als klare Stimme für den neuen, durch das Grundgesetz etablierten Vorrang allgemeiner Freiheits- und Gleichheitsrechte konnte Beyer den Schriftsteller Hermann Broch (1886–1951) anführen. Wenn künftig einmal – für Broch war das noch Zukunftsmusik – Menschenrechte effektiv einklagbar seien, dann höre "die Immunität von Regierungsfunktionären und Kongreßmitgliedern automatisch auf, sicherlich keine populäre Konsequenz, dennoch eine wichtige, vor allem weil die Einbringung eines jeden parlamentarischen Antrags, mit dem die demokratischen Freiheiten und die Menschenwürde angegriffen werden sollen, eine Selbstaufhebung der Demokratie darstellt, dann aber auch, weil die Parlamentstribüne – die Nazis sind hierfür das traurigste Beispiel – nicht zu derart zynischen und verbrecherischen Propagandazwecken mißbraucht werden darf."
Statt Werte und Inhalte der "freiheitlich demokratischen Grundordnung" nach den ideologischen Moden und den Bedürfnissen der Verfassungsschutzämter definieren zu lassen, findet sich bei Beyer das Anliegen, alle Abgeordneten den für alle Staatsbürger gleichen (Straf-)Gesetzen zu unterwerfen. Gewiss besser, als "linke" oder "rechte" Abweichler einer undefinierbaren Mitte symbolisch oder habituell zu diskriminieren und darüber die Kraft des besseren Arguments, ja das Argumentieren überhaupt zu vergessen.
Das ist 50 Jahre nach dem "Radikalenerlass" eine nach wie vor erfrischende Perspektive, die sich einer Epoche rechtswissenschaftlichen Denkens verdankte, in der sich auch der von Bernhard Schlink (1944–) böse so genannte "Bundesverfassungsgerichtspositivismus" stärker dem undogmatischen Argument ausgesetzt sah als heute.
Rechtsgeschichte: . In: Legal Tribune Online, 30.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47363 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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