Alkoholmissbrauch: Der trin­kende Bahn­beamte im recht­li­chen Inter­mezzo

von Martin Rath

26.12.2017

2/2: War das eine salomonische Entscheidung?

Trotz dieser Beweiswürdigung, die jedenfalls interpretationsfähige Beweise und das Verhalten allein in einem dem Angeklagten ungünstigen Sinn würdigte, folgte der Bundesdisziplinarhof nicht dem Antrag, den Beamten vollständig aus dem Dienst zu entfernen.

Vielmehr beließ er es dabei, den Zugführer zum Bundesbahnoberschaffner zu degradieren, da ihm in den zwei Jahren seit Beginn des Disziplinarverfahrens keine Dienstvergehen mehr vorgeworfen wurden und auch nicht ganz auszuschließen sei, dass "bei seinem Verhalten – wenn auch nicht etwa in beträchtlichem oder gar ausschlaggebendem Maße – eine gewisse rein gesundheitliche Unpäßlichkeit mitgewirkt haben kann".

Die Degradierung sei aber wegen der "zutage getretenen charakterlichen Mängel" unumgänglich gewesen.

Merkwürdige Entscheidungsgesichtspunkte

In sich – also über alle Zeitumstände hinaus – merkwürdig wirkt es, dass die Bundesrichter einerseits glaubten, hinreichende Sicherheit darüber gewonnen zu haben, dass der Bahnbeamte seine Ausfallerscheinungen nicht aufgrund eines allgemeinen, alkoholfernen Leidens an den Tag gelegt hatte, sich aber andererseits in der Strafzumessung einigermaßen forsch zum denkbaren graduellen Einfluss einer möglicherweise doch vorliegenden nicht alkoholbedingten Beeinträchtigung äußerten.
Diese innere Logik folgt ein wenig dem Satz: "Die Angeklagte ist zwar nicht schwanger, bekommt aber ein Mädchen."

Die zweite prinzipielle Merkwürdigkeit findet sich in der Feststellung der "charakterlichen Mängel": Ganz gleich, ob der Angeklagte letztlich realiter alkoholbedingt ausgefallen war oder ob er sich gegen diesen Verdacht seiner Mitarbeiter nicht hinreichend gewehrt hatte, in jedem Fall wäre dies eines mannhaften deutschen Beamten unwürdig gewesen. Das mag es wirklich sein, trotzdem bereiten derartige "double bind"-Bewertungen einiges Unbehagen.

Was als dritte Merkwürdigkeit auffällt, ist schließlich dem Blick des Nachgeborenen geschuldet: Es ist weder die Rede von möglichen Sicherheitsbedenken infolge der dienstlichen Position, noch ist die Rede von einer Alkoholabhängigkeit als Krankheit.

Hinsichtlich der möglichen Gefahrgeneigtheit bleibt das Rätsel offen: Sowohl ein Zugführer als auch ein auf die Position des Bundesbahnoberschaffners degradierter Zugbegleiter konnte – soweit in Erfahrung zu bringen war – unter Umständen einen Personenzug zum Fahrtantritt freigeben. Mutmaßlich war die Bahn damals aber einfach mit Blick auf ihr fahrendes Personal hinreichend redundant ausgestattet, so dass dies nicht an einem Mann allein hängenblieb.

Dass seinerzeit der Bundesdisziplinaranwalt trotz einer offenbar bislang untherapierten Suchterkrankung ohne Weiteres die Beseitigung aus dem Beamtenverhältnis forderte, gibt dagegen keine Rätsel auf:

Zwar hatte die Weltgesundheitsorganisation bereits 1952 den Alkoholismus  als Krankheit anerkannt, in Deutschland sollte aber erst das Bundessozialgericht 1968 die sogenannte Trunksucht als eine Erkrankung einstufen, die einer Krankenhauspflege bedürftig und würdig ist.

Daher verwundert es einerseits nicht, dass sich der Bundesdisziplinarhof drei Jahre vor dieser wegweisenden Entscheidung ein bisschen in der para-salomonischen Rechtsprechung übte, einerseits eine heikle Charakterschwäche festzustellen, andererseits aber nicht mit rigider Härte durchzugreifen.

Und was ist nun die Pointe dieser Geschichte?

Ein mutmaßlich alkoholabhängiger Mensch fällt auf, seine Umgebung reagiert, eine staatliche Intervention wird eingeleitet – seit den späten 1960er Jahren ist sie gottlob nicht mehr mit dem Makel der Charakterschwäche verbunden.

Dass in Feiertagen, die ein rituelles Schenken und Beschenktwerden verlangen, ein leicht passiv-aggressives Moment zum Vorschein kommen kann, wird für viele Menschen eine weitaus besser fassbare Realität haben als etwa die biblische Weihnachtsgeschichte, die diesen staatlichen Feiertagen Anlass gibt. Die dunkle Jahreszeit lässt zudem Serotoninspiegel und Stimmung sinken.

Kaum eine Zeit im Jahr bietet also bessere Gelegenheiten, Situationen zu eskalieren, über die sich nicht länger salomonisch hinwegschauen lässt.

Ulkigen richterlichen Erörterungen darüber, was es denn mit dem Mundgeruch auf sich hat, muss sich dabei heute niemand mehr ausliefern – welcher Bedarf besteht, können Angehörige oder potenziell selbst Betroffene sinnvoller ermitteln.

Bundesdisziplinarhof, Urteil vom 31. März 1966, Az. III D 49/65.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Alkoholmissbrauch: . In: Legal Tribune Online, 26.12.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26185 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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