2/2: Vergessen wir gute Auslegungskunst
Das Landgericht Danzig, ansässig in einer tief bürgerlichen Hansestadt, mochte immerhin die Strafnorm des § 9 b Belagerungszustandsgesetzes nicht anwenden. Ein Blick ins Gesetz zeigt, dass hier eine Quelle für richterliche Restriktionen militärischer Allmachtsansprüche zu finden war: "[Wer in einem in Belagerungszustand erklärten Orte oder Distrikte] ein bei Erklärung des Belagerungszustandes oder während desselben vom Militairbefehlshaber im Interesse der öffentlichen Sicherheit erlassenes Verbot übertritt, oder zu solcher Uebertretung auffordert oder anreizt [soll … mit Gefängniß bis zu Einem Jahr bestraft werden]."
Es wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts viel darum gestritten, wie weit es Richtern erlaubt sein müsse, Normen nach ihrem Sinn und Zweck, also teleologisch, zu interpretieren. Weil es sich hier um die zentrale Machtfrage zwischen selbstreferentiellen Gerichten und dem Gesetzgeber handelt, lässt sich dazu auch gar nicht genug streiten. An sich findet man in Entscheidungen des Reichsgerichts noch viel klassischen Positivismus: die Auslegung folgt historischen Gesetzgebungsmaterialien, dem Wortlaut und der Systematik des Gesetzes. Sich teleologisch die Rolle des Gesetzgebers anmaßen, mochten die Reichsgerichtsräte gar nicht.
Für eine klassische Auslegung gab § 9 b Belagerungszustandsgesetz auf den ersten Blick viel her: Die Regelungsgewalt der Militärbehörden, jedenfalls soweit sie strafbewehrt sein sollte, war vom Wortlaut auf das "Interesse der öffentlichen Sicherheit" beschränkt. Die weiteren Buchstaben a, c und d der Vorschrift stellen Dinge unter Strafe, die 1851 dem Kommandanten einer – zu dieser Zeit tatsächlich oft noch mittelalterlich eingemauerten Festung – das Leben in Zeiten der Belagerung schwer machen konnten: Verbreitung von Gerüchten über Siege oder Marschrichtung des Feindes, Aufruhr oder tätliche Widersetzlichkeit oder auch die fraternisierende Kommunikation zwischen Bürgern und Soldaten mit dem Ziel der Subordination.
Man sollte meinen, es sei eine systematische Auslegung geboten. Hier lag ein restriktives Resultat nahe. Das Reichsgericht konstatierte zwar, dass "(w)elchen Charakter die Anordnung des Militärbefehlshabers" trage – ob sie im "Interesse der öffentlichen Sicherheit liege – "im einzelnen Fall im Wege der Auslegung zu ermitteln" sei. Weil man im Einzelfall jedoch aus den Anordnungen des Militärs, selbst wenn sie vom eigentlichen Kriegsgeschehen so weit entfernt sein mochten wie die Preisaushänge eines Metzgereibetriebs, ohnehin nicht erkennen könne, welchen "Charakter" sie hätten, habe man sich der bloßen Regelungsabsicht des Militärs zu unterwerfen: "Maßgebend muß vielmehr der Gesichtspunkt sein, unter dem die Anordnung erlassen ist, und der Zweck, den sie verfolgt."
Echter Krieg ist noch harmlos
Im Jahr 1915 hatte der Krieg bereits unvorstellbar vielen Menschen das Leben gekostet. An der Marne, im Norden Frankreichs, starben im Sommer/Herbst 1914 rund 250.000 deutsche Soldaten. In Kämpfen westlich des "Reichslands Elsass-Lothringen" kamen rund 20.000 bereits 1914 ums Leben.
Gemessen daran scheinen die Kriegsfolgen im Urteil des Reichsgerichts vom 3. Mai 1915 (Az. I 189/15) regelrecht harmlos auf: Vom Landgericht Zabern wegen Unterschlagung, § 246 StGB, war ein Zivilist verurteilt worden, weil er sich das Hemd eines bayerischen und die Schuhe eines französischen Soldaten zugeignet hatte.
Anlass, die Sache nach Leipzig zu bringen, bot eigentlich nur der Umstand, dass der Schwager des Angeklagten "nach einem Gefechte zwischen bayerischen und französischen Truppen eine große Menge von Bekleidungs- und Ausrüstungsgegenständen auf dem Gefechtsfeld aufgelesen" und bei ihm untergebracht hatte. In Betracht kam daher, dass der Schwager durch Verlust des einen Hemdes und der Schuhe geschädigt wurde. Dann hätte hier der Strafantrag gefehlt, § 247 StGB.
Obwohl dieses Argument ihrer Auffassung nach schnell erledigt war, erörterten die Reichsgerichtsräte ausführlich, dass die Uniformteile ohne jeden Zweifel Eigentum des Militärfiskus blieben und nicht herrenlos geworden seien. Ein Recht auf Beutemachen stehe allenfalls den kriegführenden Parteien, also den Staaten zu. Sicher war das Urteil vom 3. Mai 1915 früh zur Veröffentlichung bestimmt. Die ordnende Hand des Reichsgerichts mochte am Schlachtfeldrand noch Schlimmeres verhüten.
Die juristisch eindeutige Grenzziehung zwischen Menschen, die Krieg führen und zum Beutemachen berechtigt sind, und jenen, die sich vom "Gefechtsfeld" fernzuhalten haben, wirkt in der Gegenwart "asymmetrischer" Kriegführung anachronistisch. Und so bizarr in Zeiten massenhaft produzierter Wegwerftextilien ein Verfahren um ein Hemd und ein Paar Schuhe anmutet: Wäre es nicht gut, wenn alle rechtlich relevanten Aspekte des Kriegführens und Beutemachens heute solche höchstrichterliche Aufmerksamkeit erhielten?
Hinweis: Die zitierten Urteile des Reichsgerichts sind im 49. Band seiner "Entscheidungen in Strafsachen" zu finden.
Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten: . In: Legal Tribune Online, 26.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16371 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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