2/2: Richter allesamt Reservisten?
Im Staatsdienst unter echten oder nur eingebildeten, die Frühpensionierung rechtfertigenden Erkrankungen leidenden Menschen, die sich heutzutage mit allerlei ärztlichen Untersuchungen ihrem Ziel nähern müssen, mag das Urteil aus dem Mai 1913 tröstliche Lektüre bieten: Die höchsten deutschen Zivilrichter hielten es, entgegen den Vermutungen eines habilitierten Mediziners, für möglich, ja für wahrscheinlich, dass der "Schreck" über den Eisenbahnunfall im Jahr 1906 zu einem "Rückenmarksleiden" und 1910 zum Tod geführt habe – wohl eine Art medizinisches Negativ-Wunder.
Zu viel Trost sollte man aber nicht schöpfen: Das Gericht hält fest, dass der verstorbene Eisenbahnassistent "nach Militärdienst und Erwerb des Zivilversorgungsscheins" als "Stationsaspirant" angestellt wurde – will sagen: Bevor der Mann seine mit einem "Schreck" endende Karriere bei der Bahn begann, war er entweder nach zwölfjährigem Dienst oder wegen Invalidität als Offizier aus dem Militär ausgeschieden. Man darf annehmen, dass die Reichsgerichtsräte in ihrer zeittypischen Funktion als Reserveoffiziere auch ein wenig an die Ihren gedacht haben.
Ein Urteil des gleichen Senats in militärischen Belangen deutet jedenfalls stark auf solch richterlichen Corps-Geist hin: Ob die Schädigung einer Straße "bei einer Truppenübung vermeidbar war, kann selbstverständlich nur vom militärischen Standpunkt aus entschieden und deshalb grundsätzlich nur von den militärischen Vorgesetzten beurteilt werden […]", heißt es in einer Entscheidung über Straßenschäden, für die ein Gemeindeverband bei Lüneburg allenfalls aufgrund des "Gesetzes über die Naturalleistungen für die bewaffnete Macht im Frieden" Ersatz verlangen könne. Amtshaftung von "Personen des Soldatenstandes Dritten gegenüber" schloss das Reichsgericht aus (Urt. v. 27.5.1913, Az. III 71/13).
Ob bayerische Prädikats-Juristen derlei auswendig lernen?
Jeder kennt heute wohl jemanden, der einen Bundeswehr-Reservisten kennt, der mit leuchtenden Augen davon erzählt, wie er einst mit dem Panzer Landstraßen im Lüneburgischen zerpflügt habe. Darüber hätten die Reichsgerichtsräte wohl nicht gelacht.
Bei der großen Zeitung aus Frankfurt am Main, die derzeit darum bettelt, dass sich ihre Online-Leser von Popup-Werbung belästigen lassen, bekam man im Februar 2013 leuchtende Augen ob eines Youtube-Videos, das einen Schlagzeuger bei der Vertonung eines Edmund-Stoiber-Raps zeigt. Das führt zu einem Fall, bei dem die Reichsgerichtsräte zwar nicht gelacht haben, aber Anlass bieten.
Es erging am 3. Mai 1913 ein Urteil im Streit zwischen der Stadtgemeinde Cöln und dem Reichsmilitärfiskus, das Augen leuchten lässt (Az. V 517/12; RGZ 82, 232-243). Die Stadt Köln hatte ab den 1880er-Jahren ihre mittelalterlichen Befestigungsanlagen vom preußischen Staat zurückgekauft, um nach deren Abriss Wohnbebauung zu ermöglichen – zwei Weltkriege später heute heißbegehrte Altbau-Überreste. Die wichtige Industriestadt wurde stattdessen zu Kaisers Zeiten zu einer moderneren Festungsstadt ausgebaut. Bei den Grundstücksgeschäften in diesem Zusammenhang hatte der Reichsmilitärfiskus eine Forderung von 2.125.000 Mark, gegen die die Stadt Steuerforderungen von 9.373,13 Mark aufgerechnet hatte. Im Urteil ging es nun darum, ob sie die Aufrechnung gegen "dieselbe Kasse" des Reichs erklärt hatte. Das Reichsgericht diskutiert neben der interessanten staatsrechtlichen Frage, warum eine staatliche Stelle überhaupt bei einer anderen Steuern erheben darf, die Rechtsprobleme des § 395 Bürgerliches Gesetzbuch. Eine Formulierung ist der berüchtigten "Eisenbahn"-Definition des Reichsgerichts mindestens ebenbürtig und will, so komisch sie ist, erschöpfend zitiert werden:
"Vielmehr kommt es, wie für die Frage der Zulässigkeit oder der Unzulässigkeit der Aufrechnung nach § 395 BGB überhaupt, so insbesondere auch für die Frage, ob dem Schuldner, der an eine Kasse des Reichs oder eines Bundesstaats oder eines Kommunalverbandes zu leisten hat, dieselbe Kasse zugleich auch als wegen seiner Gegenforderung gegen das Reich usw. zahlungspflichtige Amtsstelle gegenübersteht oder nicht, nur darauf an, ob die einen Geldbestand selbständig verwaltende Amtsstelle, an welche die dem Reiche usw. geschuldete Leistung zu erfolgen, die also die Leistung von dem Schuldner tatsächlich entgegenzunehmen hat, und die Amtsstelle, von der die Gegenforderung des Schuldners gegen das Reich usw. tatsächlich zu berichtigen ist, die nämlichen sind oder nicht."
Das preußische Kriegsministerium unterhielt in Köln mindestens drei Kassen, aufrechnen durfte die Stadt nur bei einer. Mehr kommt bei dieser Sprachkunst nicht heraus. Aber ist das nicht von zeitloser Schönheit? Unwillkürlich fragt man sich, ob bayerische Prädikats-Juristen – wie Edmund Stoiber – derlei auswendig lernten und ihre Rhetorik daran schärften.
Mit Schlagzeug untermalt jedenfalls bekämen von solchem Reichsgerichts-Rap nicht nur Juristen leuchtende Augen.
Martin Rath, Rechtsgeschichten 1913: . In: Legal Tribune Online, 19.05.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8762 (abgerufen am: 16.11.2024 )
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