Dieser Tage geht wieder hektoliterweise scheußlich süßer Glühwein über die Theken von Deutschlands Weihnachtsmärkten. Dabei hätte das Reichsgericht dem Ausschank alkoholischer Verschnitte vor 100 Jahren ein Ende setzen können. Darauf blickt Martin Rath ebenso zurück, wie auf die Strafbarkeit einer Wählerbestechung und den "Gänsebuchtfall", über die das Reichsgericht im selben Jahr entschied.
Zu den vorweihnachtlichen Unbehaglichkeiten, die in den kommenden Wochen wieder ungehindert das Land in Beschlag nehmen, zählen zweifellos die Weihnachtsmärkte. Besonders scheußlich ist dort das mit viel Zucker aufgekochte Rotweingemisch. Doch schon vor 100 Jahren musste sich das Reichsgericht mit zwei Verfahren befassen, die den beschwingenden Beerensaft zum Gegenstand hatten – leider verpasste es die Gelegenheit, früh die richtigen Impulse zu setzen.
Mit Urteil vom 2. Dezember 1913 sprach der vierte Strafsenat einen Gastwirt vom Vorwurf frei, "nachgemachten Wein" in strafwürdiger Weise in den Verkehr gebracht zu haben (Az. IV 1141/13). Was der Gastwirt seinen Kunden einflößte, verspricht noch nach 100 Jahren Kopfweh.
Kopfschmerzrezept vor dem Landgericht Beuthen (Oberschlesien)
"Der reine Süßwein, den er ausschänkte", so hielt das Landgericht fest, "Muskatwein genannt, war seinen Gästen zu süß. Um den süßen Geschmack abzuschwächen, verabreichte er ihnen auf ihr Verlangen den Muskatwein zur Hälfte mit Apfelwein vermischt." Zur Verurteilung wegen "Nachmachens von Wein und Feilhaltens und Inverkehrbringens von nachgemachtem Weine", strafbar nach §§ 9, 13, 26 des Weingesetzes von 1909, führte die ökonomische Denkart des Wirtes: Er mischte das Gebräu schon einmal vorab, wenn auch in einem eigens mit "Gewürztrank" gekennzeichneten Behältnis.
Das Reichsgericht qualifizierte dies – schlimmstenfalls – als Vorbereitungshandlung einer Trinkertäuschung und sprach den schlesischen Gastwirt, was man in den historischen Entscheidungen nicht oft sieht, ohne Rückverweisung unmittelbar frei, weil sich keine andere Strafbarkeit erkennen ließ. Der süßen Mischung attestierten die Reichsrichter den "Charakter eines bowlenartigen Getränks".
Ob heute flächendeckend übelriechende Weihnachtsmarktscheußlichkeiten gemischt würden, wenn die Justiz einst etwas mehr Härte gezeigt hätte? In einem Urteil vom 20. Dezember 1913 demonstrierte das Gericht, dass es durchaus strafen konnte, wenn es nur wollte.
Richter haben dem Unsinn des Gesetzes Sinn zu geben
"Nulla poena sine lege", der Grundsatz, dass der Staat nur nach klar bestimmten Gesetzen strafen soll, war 1913 in § 2 des Strafgesetzbuches (StGB) normiert. Heute hat er Verfassungsrang. Wie ein Gericht trotz greifbarer Unklarheit zu einer Verurteilung kommt, zeigt ein anderer Fall aus dem Jahr 1913.
Fraglich war seinerzeit, ob eine Wählerbestechung auch dann vom Strafgesetz erfasst wird, wenn der Wähler zwar nicht verspricht, seine Stimme dem einen oder dem anderen Kandidaten zu geben, sondern – darauf kam es im Urteil vom 20.12.1913 (Az. I 853/13) an – sich das Versprechen bezahlen lässt, seine Stimme gar nicht abzugeben. Der heutige § 108b StGB stellt eine Bestechung, die einen Wähler zum Nichtwählen bestimmen soll, ausdrücklich unter Strafe. In der Vorgängervorschrift, § 109 StGB, war das keineswegs klar. Zum Wortlaut des Gesetzes, "Wer eine Wahlstimme kauft oder verkauft", stellten die Reichsgerichtsräte fest, dass diese Begriffe "wörtlich überhaupt nicht angewendet werden können. Kaufen kann man nur einen Gegenstand, entweder eine Sache oder ein Recht. Eine 'Wahlstimme' ist aber kein solcher Gegenstand."
Statt an dieser Stelle dem Angeklagten die Unklarheit, ja den Unsinn der gesetzlichen Formulierung zugutekommen zu lassen, stiegen die Richter in eine rechtshistorische Untersuchung ein. Der französische Gesetzgeber, von dem erst der preußische, dann der deutsche die Norm fast wörtlich übernommen hatten, habe die Bestechung zur Stimmenthaltung wohl mit erfassen wollen. Als Hilfsüberlegung wird angeführt, dass diese Strafbarkeit auch vernünftig sei, weil Stimmenthaltung das Stimmgewicht verschiebe.
Richter, die sich als Schutz des Bürgers vor der Exekutive bzw. der Strafgewalt des Staates verstehen, hätten hier anders geurteilt. Strafverweigerung wegen unklarer Gesetze ist keine Urteilsverweigerung. Doch hält diese Tendenz durch subtile Tradition bis heute an: Von der "öffentlichen Ordnung" bis zur "Beleidigung" wird auf Grundlage so mancher, reichlich vager Begriffe in die bürgerlichen Freiheiten eingegriffen.
Fälle, die bis ans Ende der Welt diskutiert werden
Mit viel größerem Eifer als die Probleme des "nulla poena"-Prinzips diskutiert vor allem der juristische Nachwuchs seit nun fast genau 100 Jahren einen Fall aus dem 48. Band der "Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen", dem wir auch die anderen hier skizzierten Rechtsgeschichten entnehmen: den Gänsebuchtfall (Urt. v. 15.12.1913, Az. II 684/13).
Bekannt ist der Tatbestand vielen deutschen Juristen vermutlich nur durch Lehrbücher oder endlos durchkopierte Repetitoren-Fallerzählungen. Es geht um die Frage, ob ein Diebstahl auch vorliegt, wenn der Dieb – volkstümlich gesprochen – eine Sache nicht selbst in Besitz nimmt, sondern nur den wirtschaftlichen Vorteil zieht. Das Amtsgericht Eberswalde hatte einen Mann wegen Einbruchsdiebstahls verurteilt, der eine Art Gänsestall, die legendäre "Gänsebucht", durch "Würgen" am Schloss geöffnet hatte. Die Gänse hatte er indes nicht selbst an sich genommen, sondern einem anderen Mann zur Verfügung gestellt, um damit seine Schulden bei diesem zu begleichen.
Über die dogmatische Frage der "Zueignung" sollte man hier keine weiteren Worte verlieren. Bemerkenswert beim Blick in die Entscheidungssammlung ist, dass sich trotz der Kürze der höchstrichterlichen Tatbestandserzählung ein komplexeres Bild ergibt als in den Lehrbuch-Wiedergaben: Die Gänse wurden zum Beispiel durch in der Zahl nicht näher bestimmte "mitanwesende Bekannte" aus ihrer Gänsebucht getrieben.
Kennen Menschen, angehende Juristinnen und Juristen, die mit lila Kühen aufgewachsen sind, aus deren Eutern Schokolade fließt, eigentlich noch Gänse in der Hofhaltung? Bei dem Krach, den diese Tiere schlagen, fragt man sich unwillkürlich, wo denn vor 100 Jahren ihre Eigentümer waren. Wie viele "mitanwesende Bekannte" waren zudem am Gänsebucht-Fall beteiligt? Ein Blick in die Entscheidungen des Reichsgerichts lässt vor dem inneren Auge eine Bauernkomödie in der brandenburgischen Agrarprovinz entstehen, die unter geflissentlicher Justiz-Beteiligung zum abstrakten Lehrbuchfall entgleiste.
Vielleicht sollte man beim "Gänsebuchtfall" häufiger über die "soziale Konstruktion von Verbrechen" sprechen und die dogmatische Feinarbeit ein bisschen weniger hoch hängen?
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten 1913: . In: Legal Tribune Online, 01.12.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10216 (abgerufen am: 16.11.2024 )
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