3/3: Rheinländische Rabulistik
Im Tatbestand von 1913 heißt es: "Der Angeklagte unterhält auf den Straßen und Plätzen von Cöln eine große Anzahl Buden, in denen er Mineralwasser und Limonade gegen Entgelt zum Genuß auf der Stelle dem Publikum verabfolgen lässt. Den von ihm in diesen Trinkhallen mit der Verabreichung beschäftigten Personen hat er die gesetzlichen Ruhezeiten nicht gewährt, auch das hierfür vorgeschriebene Verzeichnis weder angelegt noch geführt."
Die Verordnung von 1902 stellte Personal unter Schutz, soweit es an einem "Büffet" arbeitete. In einer für Rheinländer nicht ganz untypischen Rabulistik gab die Verteidigung in der Revision an, dass die Buden ihres Mandanten ein "Büffet" nicht aufwiesen. Das Reichsgericht verwarf das Argument der Verteidigung, der Wortlaut des Strafgesetzes werde hier überdehnt, indem es für die Getränkebuden "Wesensgleichheit" zu sonstigen Verköstigungsbetrieben annahm und den Schutzzweck des Gesetzes betonte.
Für die Interpretation einer strafrechtlichen Norm ist das bemerkenswert. In den USA hatte seinerzeit der U.S. Supreme Court gesetzlichen Arbeitszeitregelungen als Verstoß gegen die Vertragsfreiheit kassiert (Lochner v. New York vom 23./24.2.1905), eine enge Auslegung der von der von Arbeitszeitregeln erfassten Betriebe hätte also, neben der alteuropäisch-liberalen Normstrenge, auch ökonomisch im Zeitgeist gelegen.
Fortpflanzungsverhalten als Moralmaßstab
Eine Entscheidung des Reichsgerichts befasst sich mit dem Schwangerschaftsabbruch. Einmal mit der Frage, ob der Verkäufer eines untauglichen Abtreibungsmittels wegen vollendeten Betruges verurteilt werden könne. Was bejaht wird, weil ein Rückzahlungsanspruch nach § 817 BGB ausgeschlossen sei (Urt. 28.2.1913, Az. II 77/13).
Des Weiteren befassen sich die Reichsgerichtsräte mit der Frage, ob eine Frau, die nicht schwanger war, wegen versuchter Abtreibung verurteilt werden könne. § 218 Abs. 1 StGB lautete zwischen 1872 und 1926: "Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft."
Das Reichsgericht verwirft die Auffassung der Verteidigung, dass der Begriff "Schwangere" in dieser harten Norm eine Bedeutung haben müsse. Damit öffnet es den Weg zur Bestrafung des objektiv untauglichen Versuchs. Auch hier also keine alteuropäisch-liberale Normstrenge.
Dass das Verbot der Abtreibung mit dem harten Strafmaß so konsequent angewendet werden sollte, dass es auch Nicht-Schwangere treffen konnte, hat übrigens eine böse Wendung, wenn man den sozialhistorischen Hintergrund einblendet. Für die damals "Cöln" genannte Stadt wird zweierlei glaubwürdig vertreten: Erstens, dass weibliches Personal in den Gastwirtschaften regelmäßig am Rande der Prostitution arbeitete. Zweitens, dass damals nicht die Bulimie das große unbekannte Todesrisiko junger Frauen war, sondern Suizide und illegale Abtreibungen infolge unehelicher Schwangerschaften. Schutz der Arbeitszeit wird unter Umgehung normstrenger Auslegung gewährt, die Wahnsphäre unaufgeklärter Sexualität wenig normstreng erweitert.
So viel Untreue im Privaten, so viel politischer Größenwahn
Doch zurück nach Wien. Illies erzählt die Anekdote, dass der damals 21-jährige Diktator in spe sich von einer reichen Wienerin aushalten ließ, das Geld aber auch für die Alimente aufwendete, weil er in der Heimat bereits eine Frau mit Kind hatte sitzenlassen. Die Dame in Wien verließ "Tito", als die schwanger wurde.
Moralisch etwas bizarr ist das, aber vielleicht mehr auf indirekte Weise. Der Philosoph Hans Blumenberg hat sich einmal darüber mokiert, in welchem Maß der Begriff "Treue" im 20. Jahrhundert strapaziert worden sei. Nichts haben die totalitären Staaten des Jahrhunderts, das 1914 beginnen sollte, mehr von ihren Untertanen verlangt. Dass dem deutschen Arbeitsrecht bis heute eine "Treue" innewohnt, die über "Treu und Glauben" deutlich hinausgeht, stammt auch aus dieser Epoche.
Und dann schaut man zurück und sieht: So viel Untreue und Unseriosität im Privaten, so viel politischer Größenwahn, der noch in grotesken Formen staatlichen Unrechts münden sollte. Man weiß gar nicht, wie viel davon heute noch unterwegs ist.
Martin Rath, Rechtsgeschichten 1913: . In: Legal Tribune Online, 03.02.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8089 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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