2/2: Wahres Staatsoberhaupt wird man durch Recht
Der praktische Handkommentar von Alfred Schulze (Leipzig 1908) geht unter § 100 der Frage nach, ob bei geisteskranken Beamten analog zu verfahren ist, was vor Erfindung der Psychopharmaka und der Syphilisbehandlung mittels Antibiotika zwar relevant war, hier aber nicht weiterhilft. Das Gesetz rechnet zu den Kosten des Disziplinarverfahrens, die aus den einbehaltenen Dienstbezügen zu decken sind, beispielsweise die anfallenden Portokosten. Mit einiger entwirrender Auslegungsarbeit in den Verweisen des Reichsbeamtengesetzes kommen die Reichsgerichtsräte zu dem plausiblen Ergebnis, dass die Kosten für die dienstliche Vertretung dem disziplinarrechtlich belangten Beamten nicht auferlegt werden.
Das Anliegen, einem ausgeschiedenen Beamten, der sein Amt mehr oder weniger freiwillig und geordnet niederlegt, den ehrenvollen Rückzug zu sichern, bleibt erkennbar. Eine Frage der Ehre ist auch die Einkommensordnung des Reichsbeamtengesetzes: § 5 bestimmt, dass die Bezüge monatlich im Voraus zu leisten sind. Die Vorauszahlung drückt aus, wie Kommentator Schulze anmerkt, dass das Einkommen des Beamten keine profane Gegenleistung zu seiner Arbeitsleistung sei, sondern eine für die Dauer des Dienstverhältnisses gewährte "Rente".
Warum seine Majestät zur Mehrung ihres Ruhms nicht unbedingt auf Hasen und Fasanen schießen brauchte, beantwortet § 1 des Reichsbeamtengesetzes, in dem die bis heute im Beamtenrecht gebräuchliche Phrase vom Dienstherren bemerkenswert klar wird: "Reichsbeamter im Sinne dieses Gesetzes ist jeder Beamte, der vom Kaiser angestellt oder nach Vorschrift der Reichsverfassung den Anordnungen des Kaisers Folge zu leisten verpflichtet ist."
Nähe zur Macht – vorrepublikanisches Beamtenrecht
Ein Beamter wird also entsprechend seiner Position in der Hierarchie des Staates, hier sogar seiner persönlichen Nähe zum kaiserlichen Dienstherren, mit einer "Rente" ausgestattet – nicht nach seiner Leistungsfähigkeit bezahlt, wie Schulze festhält. Scheidet der Beamte ehrenvoll, also ohne abgeschlossenes Disziplinarverfahren aus, wäre es ehrenrührig, seine Einkünfte um die Kosten für den Ersatzmann zu beschneiden.
"Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet", heißt die berühmte Phrase eines Juristen, der sich ausführlich über seine persönliche Nähe zur Macht den Kopf zerbrach. Zu Carl Schmitt (1888-1985), der diese Phrase 1922 in seiner "Politischen Theologie" publizierte, notiert Florian Illies für den Oktober 1913, der spätere Staatsrechtslehrer, damals noch kärglich besoldeter preußischer Referendar, habe einen Schnupfen gehabt und zudem Sorgen in Liebesdingen.
Den Schnupfen zu erwähnen, wirkt vielleicht etwas lächerlich – selbst wenn sich um Schmitt eine eigenartige Philologie entwickelt hat, die darauf warten lässt, dass bald noch wiederentdeckte Einkaufsschmierzettel aus Schmitts Haushalt editorisch betreut werden.
Das Liebesleid eines Staatsrechtslehrers könnte relevanter als sein Schnupfen sein. Illies kolportiert, Schmitt sei besorgt gewesen, seine Geliebte, die angebliche Gräfin von Dorotic, der engen Obhut seines sauerländischen Elternhauses auszuliefern. Die Gräfin erwies sich als Hochstaplerin, die Ehe Schmitt-Dorotic wurde vom Landgericht Bonn annulliert. Wegen seiner zweiten, nur standesamtlichen Ehe wurde Carl Schmitt von der katholischen Kirche exkommuniziert.
Vom Liebesglück über das Eheleid hin zum staatsrechtlichen Lebensthema
In seinem Buch "Die deutschen Männer und ihre Feinde", der vermutlich bizarrsten Schrift, die je über einen deutschen Juristen geschrieben wurde, hat der in jungen Jahren mit Schmitt peripatetisch befreundete Nicolaus Sombart (1923-2008), den Schmitt’schen Dezisionismus, das staatstheoretische Pathos von der (männlichen) Entscheidungsgewalt im Ausnahmezustand, auf diverse sexuelle Verwirrungen Carl Schmitts zurückzuführen versucht.
Die Verwirrung hat die Schmitt-Philologie schnell bei Sombart gesucht. Vermutlich zu Recht, denn die Lebensgeschichte des Europarats-Beamten und umtriebigen Wissenschaftlers Sombart ist nichts für keusche Leser. Völlig abwegig ist der Gedankengang, vom Liebesglück über das Eheleid hin zum staatsrechtlichen Lebensthema zu philosophieren, aber vielleicht nicht. In der Heidelberger Dissertation (1912) von Hans Breitgoff, geboren 1885 in Köln, als Assessor am Kriegsgericht 1917 von einem Granatsplitter getötet, findet sich verhaltene Kritik am katholischen Eherecht: In Fragen der kirchenrechtlichen Ehenichtigkeit sei päpstliche Willkür festzustellen.
Breitgoff scheint sonst ein entschiedener Katholik gewesen zu sein. Kritik an der dogmatischen Führung in Rom war frommen Menschen verpönt. Nun wurde Schmitt aus dem Gehäuse seiner Kirche exkommuniziert, weil seine Ehe kirchenrechtlich nicht annulliert worden war – in einem Rechtsgebiet, auf dem auch strikte Katholiken päpstliche Willkür wahrnahmen. Vielleicht ist also die These Sombarts nicht völlig abwegig, dass private Verwirrungen zum Bedürfnis führten, autoritäre Dezision von höchster Stelle hinnehmen zu können.
Statt allerhöchster Dezisionen scheint heute eher ein intelligentes Durchwursteln im gegebenen Verfassungsrahmen gefragt zu sein. Dem k.u.k. Thronfolger Franz Ferdinand, der im Oktober 1913 mit seinem Fürsten-Freund Wilhelm so manisch auf Tiere schoss, ging die Idee der "Vereinigten Staaten von Groß-Österreich" im Kopf herum, einer Art Europäischer Union im Balkanformat. Ob sein serbischer Attentäter auch nur geahnt hätte, dass wir heute in einer ähnlichen Einrichtung leben?
Martin Rath, Rechtsgeschichten 1913: . In: Legal Tribune Online, 06.10.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9740 (abgerufen am: 15.11.2024 )
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